In Faith Ringgolds Gemälde "The Flag Is Bleeding" aus dem Jahr 1967 steht eine weiße Frau vor einer blutenden US-Fahne. Rechts hat sie einen schwarzen Mann am Arm, links einen weißen. Es ist ein verzweifelter Versuch der Versöhnung in einem rassisch gespaltenen Land. Es war das Jahr der Rassenunruhen von Newark und Detroit. Faith Ringgolds Bild, Nummer 18 des "American People"-Zyklus, drückt Fassungslosigkeit und Trauer angesichts der Tatsache aus, dass die Bürgerrechtsbewegung in Gewalt kippte.
Was in "The Flag Is Bleeding" allerdings fehlt, ist eine schwarze Frau. Faith Ringgold war bis vor nicht allzu langer Zeit in der amerikanischen Kunstgeschichte diese Figur. Ihr Werk war wichtig, aber übersehen, eine markante Leerstelle im Zentrum der Geschichte bildlicher Darstellung des 20. Jahrhunderts. Erst in den vergangenen fünf Jahren, weit in ihrem neunten Lebensjahrzehnt, bekommt sie die Anerkennung, die sie verdient: mit einer Ausstellung in London, Würdigungen am MoMA und jetzt mit der allerersten umfassenden Retrospektive ihres Werks am New Yorker New Museum.
Vom Mainstream ihrer Zeit ignoriert zu werden hatte für Faith Ringgold auch etwas Befreiendes. So bahnte sie sich ihren eigenen Weg und kultivierte beispielsweise das Medium der "Story Quilts", für die sie heute neben der "American People"-Serie vielleicht am bekanntesten ist. Die Praxis brachte die afroamerikanischen Handwerksformen des Deckenstickens und des Geschichtenerzählens zusammen, die im Alltag schwarzer Frauen seit Jahrhunderten zusammengehörten.
Semiautobiografische Geschichten
Die überdimensionalen Textilien erzählen auf comichafte Weise semiautobiografische Geschichten: "Tar-Beach" beschreibt den New Yorker Sommer eines kleinen Mädchens auf dem Hausdach, "Street Story Quilt" ist die Geschichte eines Harlemer Straßenblocks.
Auch in anderen Medien ging Ringgold eigene Wege – abseits der heroischen und vorwiegend männlichen Avantgarde der Downtown-Kunstszene. Die Plakate, die sie in den 1960er-Jahren für die Black Panthers entwarf, zitieren afrikanische Designs aus dem Bakuba-Königreich im heutigen Kongo. Ihre "Soft Sculptures" kombinieren die Quilt-Kunst mit afrikanischen Masken, und nebenbei schrieb Ringgold auch noch überaus erfolgreiche Kinderbücher.
Ringgold hat wie keine andere der Lebenswelt schwarzer Frauen in der bildenden Kunst Amerikas eine Sprache gegeben. Die Retrospektive am New Museum gibt ihr nun endgültig den Platz, der ihr gebührt.