"'Scheinheilig' ist noch eine sehr milde Bezeichnung dafür, wie Europa sich verhält", sagte Ai über den Unterschied zwischen der restriktiven Migrationspolitik nach 2015 und der aktuellen Aufnahmebereitschaft für Menschen aus der Ukraine. "Wir haben kein klares moralisches oder philosophisches Urteilsvermögen mehr, sondern ein großes Durcheinander", sagte der 64-jährige der Deutschen Presse-Agentur im Museum Albertina Modern, wo er am Dienstag eine große Retrospektive vorstellte. Es ist laut Ai die bislang umfassendste Schau über sein Werk, in dem er sich nach 2015 auch intensiv mit Fluchtbewegungen nach Europa auseinandergesetzt hat.
"Wir brauchen Frieden", forderte Ai kategorisch. "Russland hat einfach den Ukrainern arrogant die Tür eingetreten und zwei Millionen Menschen nach Europa vertrieben." Dennoch dürfe nicht vergessen werden, das dies nicht der erste bewaffnete Konflikt in diesem Jahrhundert sei. Ai verwies unter anderem auf die humanitäre Krise in Afghanistan nach dem Abzug von US-Truppen und der Machtübernahme der Taliban, sowie auf die Rolle von Saudi-Arabien und US-Waffenlieferungen im Krieg im Jemen.
Welche Haltung China gegenüber Russland einnehmen werde, müsse sich erst zeigen, sagte Ai zuvor bei einer Pressekonferenz. "Ich glaube nicht, dass sich die beiden tief vertrauen, aber strategisch brauchen sie einander." Die USA und China könnten am Ende als Profiteure aus dem Krieg hervorgehen, meinte er und zeigte sich besorgt, dass der Konflikt sich ausweiten könnte.
In der Albertina Modern stößt der in Portugal lebende Exilkünstler mit seinen optisch ansprechenden aber surreal verfremdeten Skulpturen und Installationen in viele Wunden: darunter die politische Repression in China, die Zerstörung von Kulturerbe, und Kinder als Opfer höherer Mächte. In einer zentralen Fotoserie streckt Ai der Welt von Peking bis Washington seinen Mittelfinger entgegen.