100 Jahre Richard Hamilton

Er war einfach nicht zu fassen

Er zeigte uns, wie wir würdevoll die Zumutungen der Moderne ertragen: Vor 100 Jahren wurde der britische Künstler Richard Hamilton geboren, der Erfinder der Pop-Art

Wir wissen es nicht erst seit den Tagen der sozialen Medien: Die ständige Selbstdarstellung und Neuerfindung des modernen Individuums bedeutet Anstrengung und sportliche Hingabe. Dass alles dazu auch noch lässig aussehen muss, macht es nur noch mühevoller. Richard Hamilton hatte bereits am Beginn der Popkultur ein gültiges Bild für die neue Herausforderung gefunden: "Was ist es nur, was heutzutage das Zuhause so anders, so ansprechend macht?", betitelte der britische Künstler 1956 sein Plakat für die Ausstellung "This is Tomorrow" in der Whitechapel Art Gallery London. Mit diesem Poster, dieser Show schlug die Kunst einen neuen Weg ein, feierte ironisch und fasziniert das Triviale und den Trash. Das "Inventar der Populärkultur" fand der Kritiker Lawrence Alloway in Hamiltons Collage – und dachte sich den Namen für die neue Bewegung aus: Pop-Art.

Der Bodybuilder auf dem Plakat hält einen gigantischen Lutscher in der Hand, ein Pin-Up-Girl drückt den Busen raus, die Comicszene an der Wand, die Neonreklame, Möbel, Tonband, Fernseher, Zeitung, all der protzige Fortschrittsplunder – die Moderne sieht in dieser Collage schon ziemlich voll und chaotisch aus. Die Comicstrips Roy Lichtensteins, die Celebrities Andy Warhols und selbst der Staubsauger Jeff Koons’ leuchten bereits aus Hamiltons Collage herüber.

"Populär, flüchtig, billig, jung, witzig, sexy, trickreich, glamourös und big business" solle die Kunst sein, schrieb der 2011 gestorbene Londoner einmal und zeigte sich damit als Visionär. Er baute Spiegelsäle, arbeitete 1971, als einer der ersten Künstler mit Computern, kopierte Werke von Marcel Duchamp und führte so dessen Idee vom Readymade weiter. Selten sah Landschaft so romantisch aus wie auf dem Gemälde, für das er die Vorlage in einer Toilettenpapier-Anzeige fand.

1968 entwarf er gemeinsam mit Paul McCartney das Cover des Albums "The Beatles", das dann aufgrund dieser Gestaltung nur "The White Album" genannt wurde. Hamiltons Design stand nämlich in krassem Gegensatz zu Peter Blakes opulentem Coverdesign fürs Vorgängeralbum "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band": Es war eine schlichte weiße Hülle mit dem geprägten Bandnamen in Helvetica.

Doch nicht allein der Witz stand bei all den Winkelzügen des Richard Hamiltons im Vordergrund: In seinen Schriften lässt sich verfolgen, wie er sich intensiv mit Fragen der Wahrnehmung auseinandersetzt. Da passt es, dass er früh und immer wieder Joyces "Ulysses" illustrierte, ein Roman, der gebrochen vom Alltag erzählte und damit eine neue Epoche einläutete.

Das Label "Vater der Pop-Art" lehnte er ab

Richard Hamiltons intellektuelle Experimentierfreude verhinderte, dass er sich auf Markenzeichen reduzieren ließ. Selbst das Label "Vater der Pop-Art" lehnte er ab. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Bilderplünderer niemals so bekannt wurde wie seine amerikanischen Popkollegen – er war einfach nicht zu fassen. Laut Tate-Kurator Mark Godfrey lag Hamilton daran, seinem großen Mentor Marcel Duchamp zu folgen und sich "nie zu wiederholen, sondern im Gegenteil Stil und Genre ständig zu wechseln." Die Vielfalt der von Hamilton genutzten Themen und Materialien mache ihn so zum "Vorreiter des multi-medialen Umfelds, in dem die Künstler von heute arbeiten."

Doch obwohl der Brite nichts Ikonisches an sich und in seinen Arbeiten kultivierte, erkannte er doch die Ikonenversessenheit des Kunstbetriebs: Das spiralförmige New Yorker Guggenheim-Museum stelle er 1966 auf Siebdrucken reduziert und verheißungsvoll wie ein Logo dar. Und auch seinen eigenen Namen entwarf er in der Typo der deutschen Elektrogerätemarke Braun.

In seinen letzten zehn Schaffensjahren schöpfte der Hamilton alle Möglichkeiten des digitalen Drucks und der 3-D-Modellierung aus. Der Künstler wollte die Bilder gleichwohl als Malerei verstanden wissen. Die eigentlichen Sujets sind Bildraum und Zentralperspektive in der Interieurmalerei; spätestens seit "This is Tomorrow" und seiner ikonischen Wohnzimmer-Collage verfolgte er diese Spuren, die tief in die Renaissance reichen.

Überall versteckte er Reverenzen, als wollte er sich seiner eigenen Position in der Kunstgeschichte versichern: Duccios und Fra Angelicos "Verkündigung" (bei dem Ironiker Hamilton per Telefon), eine "Descending Nude" zerlegte Hamilton in Bewegungsabläufe wie Marcel Duchamp seinen "Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2", und das unvollendete Triptychon "Le Chef-d’oeuvre inconnu" greift die Geschichte von Honoré de Balzacs "Unbekanntem Meisterwerk" auf. 

Nach seinem Tod wurde er mit etlichen Ausstellungen in seinem Heimatland geehrt, darunter eine große Retrospektive 2014 in der Londoner Tate Modern. Auch dort wurde sichtbar, welchen Reichtum er hinterließ: Richard Hamilton zeigte uns, wie wir würdevoll die Zumutungen der Moderne ertragen, nämlich mit Witz und dem Wissen um die Zusammenhänge, in denen wir leben. Pop ist eben nicht Flucht aus der gegenwärtigen Realität, sondern im Gegenteil unbedingte Zeitgenossenschaft.