Manche Spezifika funktionieren wie ein Loophole im Raum-Zeit-Kontinuum. Zum Beispiel diese silbernen, scharfzackigen Clips, die man sich damals oft fünf- oder achtfach neben- oder wild durcheinander in die Haare klemmte. Auch auf Philipp Muellers Fotografien tauchen sie im Outfit junger Raverinnen auf: Rohlinge, Hilfsmittel für die Frisurenformung eigentlich, die zum hauptsächlichen Kopfschmuck umfunkoniert wurden
Dieser modische Code hat es nicht in den zweiten, dritten Zyklus der 90er-Nostalgiecool geschafft, wie beispielsweise auch – man staunt, wenn man das nochmal anschaut – der (optional eingefärbte) Ziegenbart. Auch den trugen Technojünger damals offenbar ganz gern.
Das Buch "120 bpm" von Philipp Mueller ist visuelles Zeugnis jener frühen 1990er-Jahre in Zürich, als Techno dort wie in vielen anderen Metropolen das Lebensgefühl der Stunde wurde. Ein Bildband im wahren Sinne, denn Text kommt hier nur ganz spärlich und zum Schluss hin vor. Eine gute Entscheidung, wo Essays heute fast schon obligatorisch das kulturelle Gehalt jedes noch so kleinen Printprodukts oder seines Sujets bezeugen sollen. Wie auch Techno nie vorgab, mehr zu sein, als es war, gibt es hier also vor allem Muellers Bilder zu sehen.
Alles sieht wahnsinnig verspielt aus
Der namengebende Beat soll als Vorbild für die stakkatohafte Abfolge dienen: Schwarz-Weiß geht es los im Disco-Scheinwerfer, bald kommen farbige Fotos zu, in dieser hyper-solarisierten oder grünlich-blaustichigen Tönung, die man damals bevorzugte. Keine sonnigen Gelbwerte mehr, man verbringt seine Zeit zwischen Kunst- und Höhlenlicht. Adidas-Trainingsjacken, weißblondierte Haare mit Heike-Makatsch-Frisuren, Fetisch- und Sportylooks, bauchfreie Tops und Jogginganzüge, viele Piercings, Tattoos und Zahnspangen leuchten darin auf.
Alles sieht wahnsinnig verspielt aus, und diese Albernheit beneidet man heute zu Recht, denn sie lässt sich nicht so ohne Weiteres reproduzieren. Schweißerbrillen oder besagte Haarspangen, die sonst gerade nicht für den Dancefloor bestimmt war – alles kam mit. Manche(r) ging auch gleich nur im BH zum Rave, Frau oder Mann. Selbst die leidige Staubschutzmaske taugt, wie hier eindrucksvoll nachzusehen, zum Mode-Accessoire.
Muellers Blick ist der eines Außenseiters, wie er selbst im Buch beschreibt: "Ich war ein befreundeter Fotograf, kein Techno-Hipster." Mit seinen langen Haaren und der Lederjacke schaute er eher aus wie ein "Waver". Trotzdem (oder womöglich gerade deshalb) wurde er zum umtriebigen Dokumentaristen einer der letzten großen Jugendbewegungen in der Schweiz, wie Techno im Ankündigungstext zum Buch beschrieben wird. Als solcher fotografierte Philipp Mueller auch für zahlreiche Stadt- und Clubmagazine wie "Sputnik" oder "Forecast", alle in schönsten, futuristisch-digitalen Techno-Fonts, wie sie ebenfalls das Buchcover zieren.
Manches Layout wirkt heute noch supercool, anderes beinahe schon niedlich; manches kosmopolit, anderes regional. Auch das scheint nur passend für die frühen 1990er.Jahre und ihre Hauptjugendbewegung, die im Rückblick oft wie eine spaßige Übung in Formfindung ausschaut.