"Schlaf, Kindchen, schlaf! Dein Vater hüt' die Schaf. Die Mutter schüttelt's Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein…". Das Lied wirkt. Peter von Kant liegt auf dem Boden, nachdem er sich furchtbar verausgabt hat, schließt die brennenden Augen - und schläft.
Großartig verkörpert Denis Ménochet diesen massigen, herrischen, fragilen Filmregisseur in der Titelrolle von François Ozons Kammerspiel "Peter von Kant", das die 72. Berlinale eröffnet. Diese Figur, die unverkennbar Züge des 1982 jung verstorbenen Rainer Werner Fassbinder trägt. Kurz, aber einprägsam ist Fassbinders Muse Hannah Schygulla dabei. Sie spielt die Mutter, die von Peter erst beleidigt wird und ihn dann in den Schlummer singt. Der Manipulator und Verführer stößt die Menschen von sich, wenn sie seiner Kontrolle entgleiten. Nur Frau von Kant kann er nichts anhaben. Wie Fassbinder, der seine Leute in die Verzweiflung treiben konnte, auch Schygulla in Ruhe ließ.
Vor 50 Jahren lief Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" im Berlinale-Wettbewerb. Und die junge Schygulla spielte da den Part der Geliebten der Modeschöpferin Petra von Kant (Margit Carstensen), einer im Glamour Ertrinkenden, die aus dem Strudel ihrer Einsamkeit nicht herauskommt.
Ein Mann verlangt bedingungslose Treue
Dass in Petra viel von Rainer Werner steckt, ist nicht erst Ozon aufgefallen. Er hat jetzt ein vielschichtiges Remake gedreht, in dem das fiktive und das reale Drama des sensiblen, ausbeuterischen und kokainsüchtigen Filmemachers sich unablässig durchdringen. Dabei gelingt Ozon etwas ganz Erstaunliches: Einerseits bewegt sich der französische Regisseur auf den Spuren Fassbinders, indem er die Dramatik der Geschehnisse und kaputten Leben stilisiert und verfremdet. Ähnlich wie im Film "Die bitteren Tränen", der auf Fassbinders eigenem Theaterstück beruht, agieren die Darsteller wie auf einer Bühne, oftmals mit etwas zu großer Geste.
Der Schauplatz ist eine Wohnung in Köln, es ist das Jahr 1972. Alle sprechen Französisch, was merkwürdigerweise nicht stört. Trotz seiner Verehrung für den Künstler Fassbinder zeichnet Ozon auf der anderen Seite erbarmungslos das Bild eines Egomanen, der bedingungslose Treue verlangt.
Die Rolle des stummen Faktotums, 1972 gespielt von Irm Hermann, hat Ozon an Stéfan Crépon übertragen, der als Karl, den Peter fast als Sklaven herumkommandiert, wie auf dem Laufsteg durch die Wohnung schreitet. Zum stillen Entsetzen Karls macht Peters Freundin, die Starschauspielerin Sidonie von Grasenapp (tolles Ozon-Debüt von Isabelle Adjani), ihren Regisseur mit dem aus einfachen Verhältnissen stammenden bildschönen, jungen Amir bekannt.
Die erste von vielen Liebesgeschichte
Es ist Leidenschaft auf den ersten Blick. Amir lässt sich mit dem reichen und ihn umschmeichelnden Filmemacher ein. Grandios eine Szene, in der Peter Amir bei einer Probeaufnahme dazu bringt, vom tragischen Tod seiner Eltern zu erzählen. Die ausbeuterischen Züge Petras werden bei Peter immens gesteigert. Schygullas Figur war 1972 den Zumutungen der dominanten Geliebten gewachsen. Bei Amir ist man sich nicht so sicher. Khalil Gharbia spielt ihn als jungen Bisexuellen, den Peter als Vaterfigur anzieht - der wiederum seine Machtposition aber brutal ausnutzt.
In diesem Berlinale-Jahr hat Carlo Chatrian viele Liebesgeschichten versprochen. "Peter von Kant" ist schon die erste überzeugende - auch wenn es sich trotz der erotischen Spannung zwischen Ménochet und Gharbia vor allem um die Erzählung einer tragischen (dank des Titeldarstellers auch tragikomischen) Selbstliebe handelt. Wie einst Jeanne Moreau in Fassbinders letztem Film "Querelle" lässt Ozon Isabelle Adjani "Each Man Kills The Thing He Loves" singen. Peter von Kant tötet sich quasi selbst.
Falls wir die Leidenschaft und das subtile Drama als gutes Omen für das weitere Festival nehmen können, wird die Cineastenliebe für die große Leinwand diesmal nicht enttäuscht.