Schaut man sich die Rangliste der wichtigsten Persönlichkeiten der Kunstwelt an, die das Magazin "ArtReview" 2003 herausgegeben hat, fallen ein paar Dinge auf. Erstens: Die meisten sind Männer. Zweitens: Bis auf wenige Ausnahmen sind sie aus Europa. Drittens: Sie alle üben Tätigkeiten aus, die im direkten Zusammenhang mit Kunst stehen, Kunst machen oder sammeln, Galerien und Institutionen leiten.
18 Jahre später, 2021, sehen diese Listen anders aus, ganz so, als wollten sie ein besseres, vollständiges Bild bieten und nicht nur den wohlhabenden, männlichen, euro-nordamerikanischen Teil abbilden. Aber auch die Berufsbezeichnungen sind ganz andere. "Thinker", heißt es da, oder "Theoretiker*in".
Darunter, zum Beispiel, Donna Haraway, die schon 2020 weit oben im Monopol-Ranking vertreten war. Sie ist studierte Philosophin und spezialisierte sich bald auf Wissenschaftsphilosophie. Auf den meisten Listen ist auch Anna L. Tsing vertreten. Die US-Anthropologin befasst sich im allerweitesten Sinne mit Biodiversität und Landwirtschaft und belegt in diesem Jahr den Platz zwei in der "ArtReview-Power-100"-Liste. Bruno Latour, französischer Soziologe und Philosoph, belegt Rang 47 auf der selben Liste. Er schrieb über das Verhältnis von Natur und Kultur, Objekt und Subjekt. Paul Preciado, Platz 34, Philosoph, steht in der intellektuellen Tradition von Jack Halberstam und Michel Foucault. Preciado kuratiert tatsächlich ab und zu, zum Beispiel den Taiwanesischen Pavillon auf der Venedig-Biennale 2019.
Das Verhältnis von Kunstwelt und Theorie hat sich umgekrempelt
Dabei hat die Kunstwelt nicht erst letztens die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften entdeckt. 2013 haben die Soziologin Alix Rule und der Künstler David Levine eine Untersuchung des International Art English (IAE) vorgenommen, dem Idiom, in dem weite Teile der Kunstwelt kommunizieren. Ihre These: IAE ist eine eigene Sprache, die zwar noch mit Englisch verwandt ist, aber schon längst ihre eigenen Regeln entwickelt hat: Wüsten aus Deleuze-Zitaten und sonderbare Nominalkonstruktionen, die klingen wie automatisch generierte Übersetzungen aus dem Französischen, sagen Rule und Levine.
Der Sound des IAE erinnert ein bisschen an wissenschaftliche Texte, denn die Sprache ist reich an Verweisen auf Klassiker des (meist) französischen Poststrukturalismus. Sie wollen gar nicht immer verstanden, sondern eher erkannt werden, damit Leser*innen merken: Aha, es geht um Kunst. Sie etablieren Autorität: Hier werden wichtige Dinge verhandelt. Und sie schaffen Zugehörigkeit: Wer die Sprache beherrscht, gehört zur Kunstwelt. Dabei sind Rule und Levine gar nicht zynisch, denn ein Text zur Kunst mit seinen Kaskaden aus Nebensätzen und Adverbien funktioniert auch als eine Art Lyrik. Schließlich ist die Sprache hier ebenfalls primär selbstreferenziell.
Die Studie ist schon beinahe ein Jahrzehnt alt, und das Kunstenglisch ist noch nicht ausgestorben, aber – hier eine vorsichtige These – das Verhältnis von Kunstwelt und Theorie hat sich umgekrempelt. Zu behaupten, 2021 wäre der erneute Durchbruch der Theorie in der Kunst gewesen, ist natürlich nicht ganz richtig, aber es stimmt doch genug: Theorie schillert wieder, klingt manchmal wie Science-Fiction und nimmt sich dringender sozialer und ökologischer Probleme an.
Theorie in hybriden Formen
Vielleicht fing es damit an, dass Kunstinstitutionen Ausstellungen und Diskursprogramme zum Thema Anthropozän veranstalteten. Eine Welt, wo der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht: Dieser Gedanke ging viral in der Kunstwelt. Donna Haraway leistete mit ihrem Essay "A Cyborg Manifesto" von 1985 dazu Vorarbeit, sie tippt queer-feministische Ideen an, die über Familienkonstellationen außerhalb der tradierten Modelle nachdenken, sie schreibt über Menschen und Maschinen. 2012 war Haraway Teil des Beratungskomitees der Documenta 13, und so sind die 1944 geborene Wissenschaftlerin und das Anthropozän im Zentrum der Kunstwelt angekommen. In ihrer eigenen Disziplin hingegen ist Haraway eher eine Außenseiterin, was daran liegt, dass ihre Prosa nicht viel mit wissenschaftlicher Stringenz zu tun hat. Haraway lässt spekulative Literatur in ihr Denken einfließen, und ihre Bücher sind eher ein Herantasten als fertige Thesen über Gesellschaft, Kunst und die Welt. Das Kunstsystem jedenfalls ist flexibel genug, um solche Außenseiterpositionen aufzunehmen.
Anna L. Tsing beackert ganz ähnliche Felder, nämlich wenn sie über Matsutake-Pilze schreibt. Tsing ist gewissenhaft in ihrer Arbeit, doch ihr Buch "Der Pilz am Ende der Welt", 2019 auf Deutsch erschienen, liest sich wie ein Roman und weniger wie eine anthropologische Untersuchung. Das System, das Tsing entwirft – eines, bei dem Natur, Forstwirtschaft und weltweite Migration eine unentwirrbare Verbindung eingehen – ist von Geschichten geprägt. Wenig überraschend also, dass auch Tsing sich künstlerischen Erzählformen angenähert hat, zum Beispiel mit dem Forschungsprojekt "Feral Atlas", wo sie gemeinsam mit Jennifer Deger, Alder Keleman Saxena und Feifei Zhou den verwobenen Narrativen von Tieren, Viren und Menschen nachgeht. Tsings Einfluss auf die Kunst, schreibt "ArtReview", ist in all den Werken zu spüren, die den Menschen aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit holen wollen.
Eine zweite, vorsichtige These: Die Theoretikerinnen und Theoretiker, die im vergangenen Jahr und davor so einflussreich geworden sind, ähneln eigentlich ohnehin schon Künstlerinnen und Künstler. Haraway oder Tsing kommentieren nicht einfach oder liefern die Legitimationsprosa für Ausstellungen, sie sind auch gar nicht daran interessiert, schwer verständliche Textbausteine zu liefern. Sie wollen erzählen und zwar am besten in hybriden Formen. Sie brechen aus Systemen und Disziplinen aus und kombinieren sie neu.
bell hooks als Pionierin der neuen Theorie
Dabei unterliegt nicht nur die Kunstwelt Veränderungen. Denn während für die postmodernen Theorieklassiker Dinge wie Körper, Geschlecht, Sexualität oder Emotion nur als sprachlich vermittelte, gesellschaftliche Konstruktionen verfügbar waren, lesen sich Bücher wie "Testo Junkie" (2008) von Paul Preciado schon ganz anders. Körper bekommen wieder ein Gewicht. Preciado, damals noch Beatriz, beschreibt die Testosteronbehandlung in der ersten Person, und zwar mit einer Intensität, die eher an Autofiktion erinnert und weniger an einen geisteswissenschaftlichen Text.
Die kürzlich verstorbene Autorin bell hooks gehört zu den Pionierinnen der neuen Theorie. Die 1952 als Gloria Jean Watkins geborene Schriftstellerin schrieb zunächst Lyrik, in den frühen 80ern publizierte sie dann wissenschaftlich über Schwarze Frauen und Feminismus. Geschlecht, Rasse und Klasse, schreibt sie, seien verbunden. Dieser Gedanke macht heute unter dem Begriff Intersektionalität Karriere. Bei all dem hat hooks über Liebe geschrieben, aber weder im spröden Ton der Geisteswissenschaftler, noch in den Plattitüden der Selbsthilfeliteratur. Und immer wieder schrieb sie über Kunst, Film und, in ihrem Aufsatz zu den Arbeiten des Künstlers Félix Gonzalez-Torres, auch über Verlust und Trauer.
Es ist natürlich ironisch, dass jetzt die Autorinnen, die eigentlich Machtgefüge problematisieren, als die Einflusszentren der Kunstwelt gelten. Aber, hier eine dritte These, sicher hängt das mit den sogenannten Kulturkämpfen zusammen, wo es darum geht, Institutionen und Sammlungen vielfältiger zu machen, meistens gegen politischen Druck oder unter dem Blick konservativer Medien, die von woke culture sprechen. Vielleicht gibt es eine Sehnsucht nach Aktivismus, der über symbolische Gesten hinausgeht: die neuen Theoretiker*innen schreiben nicht nur intellektuell kühne Texte, sie sind auch sperrig und unbequem.
Aber um wirklich einen neuen Theorietrend auszumachen, sind die Autorinnen und Autoren, die seit neuestem zur Kunstprominenz zählen, zu vielgestaltig. Nur eins lässt sich schon sagen: Die Leselisten werden wahrscheinlich auch im nächsten Jahr länger werden.