Die Welt würde Franz Kafka nicht kennen, wenn sein Freund Max Brod dessen Manuskripte verbrannt hätte, wie es der 1924 früh verstorbene Schriftsteller testamentarisch verfügte. Erst jetzt ist Kafka als Zeichner zu entdecken. Zwar hatte Brod auch die über 100 Zeichnungen im vorliegenden Band vor dem letzten Willen des Freundes in Sicherheit gebracht. Aber an der Veröffentlichung waren verschiedene Verlage schon seit den 1950ern gescheitert – an Brods Zurückhaltung wie am Widerstand seiner Sekretärin Ilse Ester Hoffe, die das Manuskript von "Der Prozess" und ein großes Konvolut von Kafka-Zeichnungen schon zu Lebzeiten von Brod geschenkt bekam.
Nach Hoffes Tod 2007 entbrannte ein Rechtsstreit um ihren Teil von Kafkas Nachlass, erst 2019 wurde der Fall zugunsten der israelischen Nationalbibliothek entschieden. Die Langfassung der abenteuerlichen Überlieferungsgeschichte ist im Einleitungstext des Herausgebers Andreas Kilcher zu lesen, der auch einen Aufsatz über "Zeichnen und Schreiben bei Kafka" und deren reibungsvolle Wechselbeziehung verfasst hat. Abgebildet sind handgeschriebene Texte, aus denen Figuren und Ornamente quasi herauswachsen, sowie Skizzen im Kontext der literarischen Werke (einige davon aus früheren Buchcovern bekannt, vom "Prozess" oder dem "Schloss").
Kombination von Schwerelosigkeit und Gravitas
Von herausragender Bedeutung sind aber die zahlreichen textunabhängigen Einzelblätter, die im Buch abgebildet sind. Das Absurde schildert Kafka in seinen Erzählungen und Romanen meist in einem trockenen, fast bürokratischen Stil. Ähnlich, aber eben unter den Bedingungen des Bildmediums, verbinden sich bei den Zeichnungen Knappheit und Groteske miteinander. Kafkas Humor, in den Büchern leicht zu überlesen, kommt in den Zeichnungen wunderbar heraus.
Die menschlichen Figuren scheinen stark vom Slapstick des frühen Kinos bestimmt (das Kafka liebte). Absolut einzigartig ist die Kombination von Schwerelosigkeit und Gravitas, eine Gemengelage, die für die Verrenkungen und Verformungen der Figuren ursächlich zu sein scheint. Die Theoretikerin Judith Butler denkt über Kafkas Körper in einem glänzenden Essay nach.