Nachruf auf Sylvère Lotringer

Man stellt sein Zelt für die Nacht auf

Er sah sich als ausländischer Agent und importierte französische Theorie in die USA. Nun ist Sylvère Lotringer, einer der wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit, im Alter von 83 Jahren verstorben

Sylvère Lotringer hat vergleichsweise wenig geschrieben. Trotzdem sorgte er dafür, dass jenes seltsame Genre namens Theorie von Frankreich nach Nordamerika gelangte, von dort in die Popkultur und in die Kunstwelt. Hinter den Kulissen war er einer der wichtigsten Intellektuellen der letzten 50 Jahre.

Lotringer wurde 1938 in Paris als Sohn polnisch-jüdischer Immigranten geboren, die aus Warschau geflohen waren. Den Krieg überlebte er als Kind versteckt auf dem Land, 1949 wanderte er mit seiner Familie nach Israel aus, später kehrte er nach Frankreich zurück und begann 1958 an der Sorbonne zu studieren. Um dem Wehrdienst in Algerien zu entgehen, schrieb er eine Doktorarbeit bei dem Semiologen Roland Barthes, der seine Beobachtungen zu Literatur und Popkultur mit spröder Lässigkeit vortrug, fast wie eine Blaupause für Lotringers künftige Unternehmungen.

Lotringer gründete literarische Magazine und man könnte meinen, dass mit alldem schon seine späteren Interessen abgesteckt sind, als er dann 1972 an die Columbia University in New York ging, wo er die nächsten 35 Jahre Literaturwissenschaften lehrte. Um sich als Franzose zu fühlen, ging er ins Ausland, sagte er später in einem Bekenntnistext in Interviewform, aber auch: "Ich bin überall Ausländer."

Gründer der einflussreichen Zeitschrift "Semiotext(e)"

Zwei Jahre später begann er die Zeitschrift "Semiotext(e)", die mit der Klammer im frankophonen Titel wie ein Alien gewirkt haben muss, ebenso fremdartig wie die Namen der Autoren – Foucault, Deleuze, Guattari, Virilio. Die Maßgabe: experimentelles Denken neben Popkultur, high neben low. Als hätte er das nötig, sagte Lotringer später darüber: "Ich suchte nach einem Weg ins akademische Leben – die Zeitschrift war das Ticket."

Nach einem unsicheren Start mit seiner Zeitschrift kam so etwas wie der Urknall. "Schizo-Culture", so nannte Lotringer die Konferenz, bei der Mitte November 1975 Philosophen, Künstlerinnen, Musiker über Wahnsinn, Gesellschaft und Gefängnisse diskutieren sollten. Ehemalige Psychiatrie- und Haftinsassen strömten zu den Studierenden auf den Campus der Columbia University mit seinen klassizistischen Bauten, und niemand konnte sich so recht entscheiden, ob diese tumultartige Zusammenkunft Erfolg oder Katastrophe war. Der Philosoph Gilles Deleuze jedenfalls brach seine Podiumsdiskussion empört ab, weil er überall "Mikrofaschismen" beobachtete. Hier trafen die Post-68er-Denker aus Paris auf den New Yorker Underground, Michel Foucault auf John Cage, Félix Guattari auf die, ähm, Ramones.

Lotringer war beeindruckt, wie sehr sich das Denken der New Yorker Künstler und Künstlerinnen – für ihn die letzten Ausläufer der Gegenkultur der 60er – und das der französischen Intellektuellen ähnelte. Ist er am Ende indirekt verantwortlich für die unverständlichen, theoriegesättigten Künstler- und Künstlerinnenstatements der folgenden Jahrzehnte?

Experte für den transatlantischen Austausch

Jedenfalls muss es aufregend gewesen sein, als dieses neue Amalgam aus Literatur und Philosophie in die USA importiert wurde, das irgendwann zum eigenen Genre geronnen ist: French theory. Lotringer wurde Experte für den transatlantischen Austausch, und er war immer vorne dabei. Die Zeitschrift wandelte sich zum Verlag. Während Lotringer in der Serie "Foreign Agents" – "ausländische Agenten" – Gilles Deleuze und Félix Guattaris Thesen zu Rhizomen und Netzwerken publizierte, arbeiteten US-Militärs an dem Computernetzwerk ARPANET, dem Vorläufer des Internet. Lotringers Werdegang ist voll von solchen Koinzidenzen.

Es folgten: eine Ausgabe der Zeitschrift über italienische Postmarxisten, das berühmte "German Issue" mit dem Künstler Christo und dem Theatermacher Heiner Müller, dem Schriftsteller Alexander Kluge und der RAF-Anhängerin Ulrike Meinhof. Im geteilten Berlin knüpfte Lotringer Freundschaft zum Merve-Verlag, der "Semiotext(e)" als Importeur von Theorie ähnelte.

Aber irgendwann in den 80ern sind die einstigen Avantgarden ein bisschen müde geworden, und die Welt hatte sich weitergedreht. Mitte des Jahrzehnts heiratete Lotringer Chris Kraus, eine bis dahin wenig bekannte Künstlerin und Kritikerin. Kraus begann die Serie "Native Agents", sie ließ ihre Interessen einfließen: Theoriefiktionen, feministische Manifeste, queere Geschichte. Kraus sagte einmal, dass sie Lotringers Verlag schon bewundert hatte, bloß: Nach 15 Jahren mit Texten von weißen Männern sei es an der Zeit für Neues. Fortan publizierten sie gemeinsam Texte von Kathy Acker, Eileen Myles, sowie anderen Künstlerinnen und Autorinnen.

Kraus’ eigener Briefroman "I Love Dick", der auch ihre Beziehung zu Lotringer thematisierte, wurde mit Verspätung zum Bestseller und als Serie verfilmt. Lotringer wurde bei Acker und Myles zur Romanfigur, und sein Verlag rückte der aktuellen Kunst näher. Kraus ist zu verdanken, dass die Bücher polemischer und persönlicher wurden. "Die Kunstwelt ist so verführerisch", sagte Lotringer einmal, "besonders wenn man an der Uni festhängt." Kraus und Lotringer trennten sich 1995, sie arbeiteten aber weiter daran, den Verlag zu einer der wichtigsten Plattformen der Gegenwartsliteratur zu machen.

Verbindungen zur Massenkultur

In den 90ern war Lotringer desillusioniert: Der Kunstmarkt wurde zu einem Millionengeschäft, man sprach nicht mehr von Avantgarde oder Underground, sondern von den meistverkauften Künstlern. Er glaubte, nun sei die Kunst eine Industrie wie alle anderen, und er publizierte als Reaktion wieder schwer zugängliche Theorietexte, ohne Einführung oder Erklärung, darunter "Simulakra und Simulation" von dem Philosophen Jean Baudrillard.

Seltsamerweise ergaben sich trotzdem immer wieder Verbindungen zur Massenkultur. Baudrillards Buch über Simulationen wurde zur Referenz für den Cyberpunk-Schlager "Matrix" von 1999. Ein paar Jahre später hielt der konservative Fox-News-Moderator Glenn Beck die "Semiotext(e)"-Ausgabe des anarchistischen Texts "Der kommende Aufstand" in die Kamera. Das gefährlichste Buch überhaupt sei das, so Beck, mit Verweis auf die Unruhen in den Pariser Vororten von 2005. Das linksradikale Traktat führte danach die Amazon-Bestseller an.

Eigentlich wollte Lotringer, der 2015 die französische Auszeichnung Ordre des Arts et des Lettres erhielt, gar kein Verleger sein. "Man darf den Menschen nicht geben, was sie wollen, sonst hassen sie einen dafür", so sein Prinzip. In dem Merve-Bändchen mit den "New Yorker Gesprächen" von 1983, das man manchmal noch in Antiquariaten und auf Flohmärkten findet, schreibt Lotringer, er wolle ein Äquivalent schaffen für den Diskurs, den Künstler und Künstlerinnen nicht führten. Ein respektvolles Unterfangen, dem er in Gesprächen und im Büchermachen nachging. Er war gar nicht so interessiert an einem geschlossenen Gedankengebäude. "Man erbaut keine Pyramide, sondern besetzt einen Winkel", sagt er. "Man schafft kein Fundament, man stellt sein Zelt für die Nacht auf."

Am 8. November ist Sylvère Lotringer im Alter von 83 Jahren verstorben. Er hinterlässt seine Ehefrau Iris Klein.