„Günter Grass, der Waschlappen, Klaus Staeck, der Opportunist, und all die Arschlöcher von der Presse“ – Bazon Brock sieht aus wie ein gemütlicher Professor und schimpft mal wieder wie ein Formel-Eins-Fahrer, der im Stau feststeckt. Er hat keine Zeit zu verlieren: Der Besucher, der den monologisierenden emeritierten Ästhetikprofessor in seiner täglichen Führung durch die von Grass, Staeck und der Presse kritisierten Ausstellung „60 Jahre. 60 Werke“ begeleitet, bekommt schon nach wenigen Minuten die ganze Wucht autoritären Geweses ab, das der Generation Grass/Staeck/Brock so eigen ist.
Jeden Tag um 15 Uhr findet sich Bazon Brock im Martin-Gropius-Bau ein, um Gruppen durch die Schau bundesrepublikanischer Kunstgeschichte zu führen. Hier sind Arbeiten zu sehen, die zwischen 1949 und 2009 entstanden sind. Eine Kommission hat für jedes Jahr ein Werk ausgewählt, und nun hängt da eine Art Kanon beisammen. „Die beste Rekonstruktion aller denkbaren Möglichkeiten“, findet Brock, der nicht zu den Kuratoren gehört.
Alles hätte also ganz routiniert, gedenkfeiermäßig über die Runden gehen können, mit potenten Sponsoren, einer schönen Eröffnung durch die Bundeskanzlerin, täglicher Berichterstattung vom Medienpartner Bild-Zeitung. Und doch wurde es ein kleiner Skandal. Wo denn, bitteschön, die DDR-Kunst bleibe, wollten viele aufgeregt wissen.
„Wenn man eine Ausstellung über Elefanten macht, diskriminiert man nicht die Nashörner“, meint Bazon Brock dazu. Man habe die Ostdeutschen in der Ausstellung, aber es seien eben die von der DDR rausgeworfenen Künstler wie Richter, Baselitz, Penck.
Brock selbst hingegen ist ein Stück BRD-Kunstgeschichte: Er trat zusammen mit Beuys und Nam June Paik auf, empfahl sich dem Frankfurter Zoo als „denkendes Säugetier, sehr selten“, cremte einen Globus ein, um sich über Erlösungsphantasien lustig zu machen. Der heute fast 73-Jährige wollte immer ein „Künstler ohne Werk“ sein – und wurde ein Redner ohne Unterbrechung. Jürgen Johannes Hermann Brock, wie der Emerit mit bürgerlichem Namen heißt, hat den durch einen Lehrer gegebenen Spitznamen Bazon, griechisch für „Schwätzer“, mit einigem Stolz und etwas Ironie angenommen. Auf mehreren Ausgaben der Documenta führte er wortreich eine „Besucherschule“ an: Führungen entlang der Kunst. Jetzt gibt es sie auch hier in Berlin. Täglich.
Diskurs hat ausgekotzt. In dieser Schule gibt es jedenfalls keine Diskussionen, und die Zuhörer fordern sie auch nicht ein. Offensichtlich braucht man auch ein bestimmtes Alter, um sich der Autorität Brocks anzuvertrauen, so ab 50 Jahre aufwärts. Diese Besucher ertragen wortlos, wenn der Meister sie ausschimpft, weil sie zu nah an ein Werk treten oder einen Hölderlin-Vers nicht aufsagen können („Sie brauchen ein Allgemeingut an Wissen, das Sie herumtragen! Sonst brauchen Sie auch nicht ins Museum zu gehen!“)
Meist aber sind dem Redner hier die Zuhörer völlig egal. Später werden Besucher beieinander stehen und sich eingestehen, dass sie nichts verstanden haben. Doch eigentlich macht das nichts, denn Bazon Brocks ungeheuerliche Rhetorik kann einen auch so in einen diffusen Erregungszustand versetzen: Wie er assoziativ von einem Gegenstand zum anderen springt und es immer noch schafft, den vermeintlich langweiligsten, schon längst bekannten Künstler in ein neues Licht zu setzten. Oder der Besucher nimmt aus dieser Schule einfach ein paar neue Kalendersprüche mit: „Globalisierung bedeutet Diaspora für alle“.
Hat man aber nur den einen oder anderen Brock-Vortrag bereits gehört, dann erkennt man auch im Martin-Gropius-Bau, dass dieses referenzreiche Gehopse tatsächlich auch in den Mauern eines Gedankengebäude stattfindet: Brock setzt gegen Kultur, Nation, religiöse Fundamentalismen und kapitalistischer Sinnlosigkeit die Zivilisation, und Zivilisation findet er vor allem im Museum. Hier werde kulturelle Differenz zur Betrachtung freigegeben, ohne dass man sich als beobachtender Beobachter auf die eine oder andere Seite schlagen muss.
Diese Idee kommt auch heute zum Einsatz, wenn er über die BRD der 60er-Jahre redet: Nachdem in der Nachkriegsmalerei einige Wege wirkungslos blieben, werde Kunst nun schließlich als Erkenntnisinstrument entdeckt, „und alle Wissenschaft wird bildend, und alle Kunst wird erkennend“. Brock kann das wunderbar demonstrieren, an der ZERO-Gruppe, an Knoebel, Palermo und vor allem an Beuys: Wie Farbe mit Gehirn zusammenhängt, das wissenschaftliche Modell mit Skulptur, Porno mit Jahresbilanzen von Unternehmen, Aufklärung mit Aberglauben.
Und da ist Bazon Brock, auch wenn ihm in allem die Beflissenheit und Angeberei des Bildungsbürger einer längst untergegangenen Bundesrepublik anhaftet, doch sehr modern. Dass es nicht sehr zivilisiert ist, seine Gegner zu beschimpfen (und auch noch im Museum!) oder diffamierende, haltlose Thesen aufzustellen (etwa: „die Presse“ heute unterscheidet sich kaum von der Goebbels-Presse), darüber mag man am Ende auch hinwegsehen. Zwei Stunden sind um, die Schule hört erstmal bei den 70er-Jahren auf. Jemand zitiert Goethe, um dann doch noch etwas zu zitieren: Vorhang, betroffen, alle Fragen offen. Worauf der Professor den Mund verzieht und genervt meint: "Also, ich habe doch alle Fragen beantwortet."
Die Rundgänge finden noch bis zum 14. Juni statt: täglich von 15.00 bis 16.30 Uhr im Martin-Gropius-Bau
"60 Jahre. 60 Werke"