Wahlrecht für alle

"Es würde unsere Demokratie stärken, wenn jede Stimme zählt"

Die Kulturinitiative "Die Vielen" macht vor der Bundestagstagswahl auf Menschen aufmerksam, die in Deutschland leben, aber nicht wählen dürfen. Hier spricht Künstlerin Kasia Fudakowski über Teilhabe und den hilfreichen Blick von außen

Am 26. September 2021 wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Doch nicht jede Person, die auch in Deutschland lebt, ist berechtigt, ihre Stimme bei dieser Wahl abzugeben. Insgesamt sind knapp zehn Millionen Menschen betroffen. Und damit ziemlich viele, findet der gemeinnützige Verein "Die Vielen", der sich für eine offene und demokratische Gesellschaft einsetzt und in dem sich auch viele Kunsthäuser engagieren. Die Plakataktion zum "Wahlrecht für alle" mit elf Motiven von Künstlerinnen und Künstlern wurde mit einer Demonstration vor dem Bundestag eine Woche vor der Bundestagswahl eingeläutet.

Eine der beteiligten Künstlerinnen ist die in Großbritannien geborene und in Berlin lebende Kasia Fudakowski. Wir haben mit ihr über das Wahlrecht für alle und ihre erste Bundestagswahl gesprochen.

Kasia Fudakowski, über 9,7 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, werden bei der Bundestagswahl kommenden Sonntag nicht wählen dürfen, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. In Berlin ist jede dritte Person von den Wahlen ausgeschlossen. Sind Sie auch betroffen?

Ich bin erst vor kurzem "deutsch" geworden. Im Jahr 2018 hatte ich eine feierliche Einbürgerungszeremonie. Sobald man sich bewusst ist, welche Rechte man dadurch plötzlich hat, wird erst einmal sichtbar, was andere nicht haben. Für mich war meine Einbürgerung ziemlich einfach, würde ich sagen. Das hat mir im Vergleich aber vor allem gezeigt, wie schwer das für andere Personen sein kann, bei denen es um viel wichtigere Dinge geht als bei mir.

Was waren Ihre Beweggründe, sich für die Einbürgerung zu entscheiden?

Ich wollte mich vor allem wegen des Brexits einbürgern lassen. Dabei war für mich aber besonders wichtig, dass ich meine englische Staatsbürgerschaft trotzdem behalten kann. Bei so einer Entscheidung gibst du ja nicht nur deine Nationalität ab, sondern auch die Verbindung zu deiner Familie. Auch im Hinblick auf die Zukunft weiß man nicht, wofür es mal wichtig sein kann, welchen Pass man hat. Ich wohne seit 15 Jahren in Berlin. Also bin ich auch seit 15 Jahren raus aus England. Das heißt, dass ich dort auch nicht mehr wählen darf. Es hätte also sein können, dass ich nirgendwo eine Stimme gehabt hätte. Deswegen war es mir besonders wichtig, es hier zu schaffen. Diese ganzen Überlegungen haben bei meiner Entscheidung mitgespielt.


Hat sich Ihr Blick auf das politische Geschehen mit dem neugewonnenen Stimmrecht verändert?

Als Erstwählerin in diesem Jahr fühle ich mich ein bisschen in mein 20-jähriges Ich in England im Jahr 2003 zurückversetzt. Über die erste Wahl denkt man viel nach und recherchiert gründlich. Man ist noch viel engagierter, weil man ein neues Recht dazu gewonnen hat und damit auch eine neue Verantwortung trägt. Es war mir zwar vorher auch wichtig, was in der Politik passiert, aber ich verfolge es jetzt ganz anders, weil ich eine eigene Stimme habe. Viele meiner Freunde haben dieses Jahr Briefwahl beantragt. Ich freue mich darauf, ganz performativ zum Wahllokal zu gehen. Man spielt förmlich diese Rolle der Bürgerin oder des Bürgers. Das finde ich spannend. Obwohl ich ein bisschen Angst habe, eventuell nicht alles zu verstehen, weil es schon anders ist als in England. In England hast du eine Stimme. Hier ist der Wahlzettel etwas länger.

Wie sind Sie auf "Die Vielen" aufmerksam geworden und wie haben Sie Ihre künstlerische Praxis eingebracht?

Die Verbindung zu "Die Vielen" ist freundschaftlicher Natur und kommt über Raul Walch. Er hat mich eingeladen an der Plakatkampagne "Die Parlamente den Vielen" teilzunehmen. Ich war vorher aber auch schon auf einigen Demos und Aktionen der Vielen. Für mich war es ein guter Anlass, aber auch eine künstlerische Herausforderung, mich an dem Projekt zu beteiligen. Besonders herausfordernd war die Klarheit der Botschaft und dass sie etwas vermitteln muss. Klarheit sollte nicht das Ziel der Kunst sein. Das ist also ein bisschen anders als bei den Plakaten, die vorrangig etwas vermitteln wollen. Die Grenze zwischen einer Kulturinstitution und einem weiteren Publikum war für mich zusätzlich spannend, da die Plakate ja zu beiden sprechen sollen.

Es gibt eine Diskrepanz zwischen Gesetzgebung - dort müsste das Thema ja letztlich hin - und Kulturszene: Was bewirkt das politische Engagement der Kulturszene? Und sehen Sie es als einen Vor- oder Nachteil, bei dem Thema aus der Kunst zu kommen?

Eine engagierte Kulturszene hat mehr Chancen, etwas zu erreichen, als eine unengagierte. Das gilt grundsätzlich für jede Szene. Politik durchdringt alle Bereiche des Lebens. Es ist natürlich von Vorteil, Ideen, die weitreichende politische Auswirkungen haben könnten, im "sicheren" Rahmen der Freiheit der Kunst zu hinterfragen, zu diskutieren und zu simulieren. Ideen, die im Alltag als "absurd" gelten, können ohne Spott erforscht werden und sich in der Tat als ebenso absurd wie der aktuelle Status Quo oder möglicherweise sogar als viel sinnvoller erweisen.

Entstanden sind sehr laute, bunte Plakate. Was ist der Hintergrund der Motive?

Ich habe zwei Plakate gemacht. Das eine basiert auf einem Art-Nouveau-Session-Poster mit ganz vielen Bäumen. Da habe ich an einen Wald mit vielen Menschen und verschiedenen Plattformen gedacht, auf denen manche Menschen sichtbar sind und andere wiederum nicht. Das ganze soll sinnbildhaft Fragen aufwerfen: Wer hat eine Stimme? Und wer nicht?

Und das andere?

Für das andere Poster war ich inspiriert von der lustigen Tatsache, dass auf vielen deutschen Verpackungen, Broschüren oder Werbeanzeigen steht: "Ihre Meinung ist uns wichtig". Das ist irgendwie ziemlich flach. Aber wenn man es mal in den politischen Kontext rückt, auf die Tatsache, dass manche Menschen nicht wählen dürfen und dann gesagt wird: "Ihre Meinung ist uns so wichtig", bekommt das Ganze eine absurde Note. Ich wollte das einfach schreiend darstellen. Jede Person kann eine eigene Meinung vertreten, aber von manchen Personen wird sie ernster genommen als von anderen.
 


Auf dem einen Plakat steht "Wir sind Viele, Viele, Viele… x10.000.000". Ist "Wir sind Viele" nicht eine floskelhafte Aussage, die inzwischen von vielen politischen Akteurinnen inflationär verwendet wird? Was heißt es für Sie "Viele" zu sein?

In dem Kontext bekommt man plötzlich eine Verbindung zu den fast zehn Millionen Menschen, die in Deutschland nicht wählen dürfen. Und das ist nicht nichts. Es ist eine unsichtbare aber sehr, sehr große Zahl. Es ist mittlerweile nicht mehr, ohne es abwertend zu meinen, ein "Wir-sind-Viele" in der Größenordnung einer Ein-Themen-Partei. Wählen sollte ein grundlegendes Menschenrecht sein. Das "Wir sind Viele" ist für die Personen, die nicht hier wählen dürfen, eine Basis, um zu zeigen: "Hey, wir haben keine Demokratie". Oder positiv gesagt: Es würde unsere Demokratie nur verstärken, wenn diese Stimmen auch zählen würden. Dabei sollte man keine Angst haben und an den demokratischen Prozess glauben. Wenn die Vielen auch eine Stimme haben würden, dann würde es eine bessere Repräsentation von dem geben, was Deutschland wirklich ist.
 


Vergangenen Sonntag hat eine Demonstration der Vielen zum Thema "Hier leben. Hier wählen" vor dem Bundestag stattgefunden. Wie haben Sie die Demo erlebt?

Dafür habe ich zu Hause schnell noch einen lustigen Wahlzettel gemacht, der ganz lang ist und auf dem immer wieder "Wahlrecht für alle" steht, mit einer Ankreuzoption daneben. Ich habe mit einigen Menschen dort geredet. Manche, die verstanden haben, worum es ging, waren schnell einverstanden, andere wurden aggressiv. Uns wurden Aussagen wie: "Die Ausländer, die wissen doch nichts" oder "Ich würde auch gern in den USA wählen, das heißt aber nicht, dass ich das machen sollte" an den Kopf geworfen. In der Kunst passiert es eher selten, dass man so direkt mit einer anderen starken Meinung konfrontiert ist und man so schnell und eloquent wie möglich seine Argumente formulieren muss.

Haben Sie dabei etwas gelernt?

Ein Mann sagte zu mir, dass wählen hier nur etwas für Deutsche sei. Was aber heißt "Deutsche"? Die "Wahl für alle" bedeutet nicht, dass alle eingebürgert werden müssen. Ich denke, das ist eine falsche Schlussfolgerung. "Die Vielen" unterstützen Forderungen von Initiativen wie 14% Nicht ohne uns oder Wir Wählen. Hier werden unter anderem die Verknüpfung des Wahlrechts mit einer bestimmten Aufenthaltsdauer oder mit der unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigung vorgeschlagen. Es müsste ein Modell geben, das Menschen, die bereits seit Jahren hier leben, ermöglicht, wählen und mitgestalten zu können. Ich habe das Gefühl, dass ausländische Menschen politisch und gesellschaftlich oft viel engagierter sind. Das habe ich auch in England gemerkt. Der Blick von außen hilft manchmal, um innen verstehen zu können.

Wie sind Sie den negativen Stimmen auf der Demonstration begegnet?

Ich habe klar gesagt: Ich bin hier, weil ich zum ersten Mal die Wahl habe und viele meiner Freundinnen und Freunde eben nicht. Und die wohnen hier teilweise schon seit mehr als 15 Jahren, zahlen ganz normal ihre Steuern und sind 100 Prozent beteiligt am gesellschaftlichen Leben. Trotzdem dürfen sie hier nicht wählen. Es ist absurd, das nicht zu erlauben. Wenn du Steuern zahlst, solltest du auch wählen können. Das ist fast der einfachste Weg, es zu erklären.

Hat das Thema auch Auswirkungen auf Ihre künstlerische Praxis?

Ich arbeite sehr oft mit Ja-Nein-Mechanismen. Also mit einer Wahl oder einer Entscheidung. Auch klare Ja-Nein-Fragen finde ich sehr spannend. Das steckt tief in meiner Praxis. Es interessiert mich sehr, was man wählt und was man damit auch für andere Menschen hinterlässt. Die Aktion zur Bundestagswahl hat da gut reingepasst.