Christian Boltanski, das letzte Jahr hatte viel mit dem zentralen Thema Ihres Oeuvres zu tun: dem Tod.
Ja, das ist eine richtige Beobachtung. Und was mich vor allem überraschte, ist, wie schnell der Tod aus seiner verstecken Ecke kam und zu einer täglich aktualisierten Neuigkeit wurde. Denn es ist ja schon immer so, dass täglich mehrere tausend Menschen sterben. Aber durch die Pandemie haben wir auf einmal begonnen, die an den Folgen einer Corona-Infektion Verstorbenen zu zählen und dadurch ein anderes Bewusstsein zu entwickeln.
Was hat sich dadurch verändert?
Der Tod hat damit auf einmal ein öffentliches Interesse und eine Alltäglichkeit erfahren, die ihm sonst nicht eigen sind. Denn eigentlich sprechen wir Menschen nicht gerne über den Tod. Aber seit dem Winter 2020 hören wir jeden Abend in den Nachrichten eine aktualisierte Zahl der Verstorbenen. Das ist eine unglaubliche Veränderung in unserer Gesellschaft. Gleichzeitig fühlte ich mich ein wenig erinnert an die 1980er-Jahre, als ich durch Aids sehr viele Freunde verloren habe. Merkwürdigerweise kannte ich damals sehr viele Menschen, die gestorben sind und von den heute Verstorbenen kenne ich glücklicherweise keinen Einzigen.
Sie haben vor einigen Jahren auf der Biennale in Venedig eine Arbeit gezeigt, die Geburten und Todeszahlen live anzeigte...
Ja, und es gab auf diesen Anzeigen immer etwas mehr Geburten als Tode. Natürlich ist niemand von uns ersetzbar, weil jeder Mensch einzigartig ist - und doch werden wir eines Tages ersetzt. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass China im vergangenen Jahr das Verbot, mehr als zwei Kinder zu haben, zumindest vorläufig aufgehoben hat.
Welche Gefühle haben Sie selbst in dieser Zeit begleitet?
Aus dem genannten Grund, dass ich glücklicherweise keine Verstorbenen kenne, hat mich eher ein diffuses Angstgefühl begleitet als eine konkrete Furcht. Vor einigen Wochen wurde in Paris die Maskenpflicht auf den Straßen aufgehoben, aber ich trage weiterhin eine Maske, weil ich die merkwürdige Angst weiter in mir trage. Ich fühle mich nackt ohne eine Maske. Ich denke, das liegt daran, dass der Feind, das Virus, für uns einfach vollständig unsichtbar ist. Das hat einen ganz neuen Zustand der Angst hervorgebracht.
Hat sich Ihr eigenes Verhältnis zum Tod dadurch verändert?
Nein, denn ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Thema unserer Sterblichkeit. Ich habe eher mit einer gewissen Zufriedenheit beobachtet, dass wir auf einmal den Tod beim Namen nennen. In der Zeit vor der Pandemie haben wir vermieden, über das Altern und den Tod zu sprechen. Das waren ungeschriebene Regeln. Insbesondere in den USA ging es doch im letzten Jahrzehnt vor allem darum, die ewige Jugend zu erlangen. Mit der Öffentlichwerdung des Todes haben wir auch ein neues Gefühl zum Alter entwickelt.
Inwiefern spielt der Titel Ihrer aktuellen Ausstellung in der Galerie Kewenig, "Danach", auf diese Zeitenwende an?
Für mich hat dieses "Danach" mehrere Bedeutungsebenen: Ich habe schon häufig mit dem Titel "Après" gearbeitet, der für mich in erster Linie auf die Zeit nach dem Tod anspielt. Nun ist dieser Titel aber auch leicht ironisch, denn in der Berichterstattung und in unserer Gesellschaft hat sich diese Mähr vom "Leben danach", von dem "Leben nach Corona" eingebürgert. Michel Houellebecq ist da pessimistischer, und ich könnte mir vorstellen, dass er damit Recht haben könnte, dass wir Menschen wieder sehr schnell in alte Angewohnheiten und Verhaltensweisen zurückfallen werden. Und dann gibt es noch eine dritte, sehr persönliche Bedeutungsebene, denn diese Ausstellung ist die erste nach dem Tod meines langjährigen Freundes und Begleiters Michael Kewenig.
Sie haben die Ausstellung selbst als Gedenkstätte bezeichnet. Wem wird hier wie gedacht?
Im Erdgeschoss habe ich die Arbeit "Hamburger Straße" installiert, die sich auf die jüdische Schule in der Großen Hamburger Straße in Berlin bezieht, die 1938 von den Nationalsozialisten geschändet wurde. Man sieht die auf die weißen Wände der Eingangshalle projizierten Gesichter der Kinder nur für wenige Sekunden aufscheinen und entdeckt sie wahrscheinlich erst auf den zweiten Blick. Es sind Geister. Die Stadt Berlin erscheint ja manchmal so weit und leer, aber sie steckt voller Geister. Im zweiten Stock sind zwei weitere Arbeiten zu finen, die sich mit dem "Danach" beschäftigen.
Welche?
"Crépuscule" ist ein Raum, der mit etlichen Glühbirnen bestückt ist und sehr hell leuchtet. Doch während der Dauer der Ausstellung wird jeden Tag eine der Glühbirnen ausgeschraubt, sodass der Raum zum Ende der Ausstellung komplett dunkel sein wird. Die dritte Arbeit ist eine Klang- und Rauminstallation, der mein eigener Herzschlag zugrunde liegt. Er steuert weitere Glühbirnen, die aufleuchten und wieder ausgehen. Denn der Herzschlag enthält ja immer beides: Das Leben und den Tod. Die Aufzeichnungen eines EKGs veranschaulichen das ja sehr deutlich. Wenn ich einen Herzschlag höre, dann habe ich Angst vor der Stille. Zusammen ergeben diese Arbeiten also wahrhaftig eine Gedenkstätte: Wir gedenken der toten jüdischen Kinder der Hamburger Straße, der eigenen Endlichkeit im Allgemeinen und auch der in der Pandemie Verstorbenen.
Auf der japanischen Insel Teshima haben Sie ein Archiv mit Herzschlägen kreiert. Ist dieses Projekt für Sie auch eine Gedenkstätte?
Nicht unbedingt, das Projekt hat eine ganz eigene Dynamik entwickelt. In einer kleinen Hütte am Strand von Teshima kann jeder Mensch seinen Herzschlag aufzeichnen und im Archiv der Herzschläge abspeichern lassen. Inzwischen gibt es dort in etwa 120.000 aufgezeichnete Herzschläge und es gefällt mir sehr, dass diese kleine Hütte mit ihren Festplatten ein Eigenleben entwickelt hat. Die meisten Besucher wissen gar nicht, dass es sich um ein Kunstwerk von Christian Boltanski handelt. Das "Archive des Coeurs" ist eine eigenständige Pilgerstätte geworden. Natürlich sind unter den aufgezeichneten Herzschlägen inzwischen auch immer mehr Tote und der Lauf der Dinge wird dafür sorgen, dass das Achiv zunehmend die Herzschläge von Toten konserviert. Ich wurde schon einige Male von Menschen angesprochen, die davon wissen, dass der Herzschlag eines geliebten Menschen dort gespeichert ist. Aber auch, wenn es das Projekt technisch erlaubt, empfehle ich ihnen, die Tondatei der Verstorbenen nicht abzuspielen. Das würde den Schmerz meiner Ansicht nach eher verstärken.
Werden die Orte des Glaubens in unserer Gegenwart eher von der Kunst als von Religionen hervorgebracht?
Ich kann nur für meine eigene Arbeit sprechen. Vielleicht verhält es sich ein bisschen wie mit den alten Kirchen, deren Tore offen stehen und die man auf Reisen betritt. Man kann sie auch als Agnostiker betreten, und man wird Betende sehen, Weihrauch riechen, Tafelbilder sehen. Und selbst, wenn man die Bedeutung dieser Dinge nicht vollständig dechiffrieren kann, beginnt man an diesen Orten doch, in sich zu kehren und nachzudenken. Dann verlässt man sie wieder und geht um die Ecke etwas essen, ein Glas Wein trinken, und der Alltag nimmt wieder seinen Lauf. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Orte außerhalb unseres Lebens brauchen. Und dass wir sie in der Kunst finden können.