Ohne alte Filme gäb’s keine neuen, und ohne Retrospektive ist die Berlinale eine halbe Sache. Dieses Jahr fällt die historische Reihe aber doch aus. Weil der Platz im Open-Air-Programm dafür fehlt, wird die Retrospektive "No Angels – Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard" auf das kommende 72. Festival im Februar 2022 verschoben. Für Mae West – die bekannteste der drei Hollywoodstars – wird aber doch eine Ausnahme gemacht. "I’m No Angel" (1933) wird am Sonntag, den 20. Juni um 22 Uhr am Schloss Charlottenburg gezeigt.
West (1893-1980), die im Film als Löwenbändigerin ihren Kopf ins Maul einer Raubkatze legt und ebenso spielend mit Männern wie Cary Grant fertig wird, schrieb den Großteil des Drehbuchs selbst. Ihre Sprüche wie "When I'm good I'm very good. But when I'm bad I'm better" dürften dazu beigetragen haben, dass "I’m No Angel" 1934 aus dem Verkehr gezogen wurde. Damals trat in Hollywood der sittenstrenge "Hays Code" in Kraft. Die Zensur bremste Mae Wests Karriere am Ende aus.
Ab 1943 zeigte die Darstellerin, die nie Rollen spielte, sondern immer nur das von ihr verkörperte Image variierte, der Traumfabrik die kalten Schulter. Obwohl der selbstbewusste Mae-West-Typ und die sexuell anspielungsreichen Filme beim Publikum sehr gefragt waren, fehlte der Diva schließlich die Rückendeckung der Studios, die zunehmend konfliktscheu gegenüber den Moralwächtern agierten.
Ein Rotationshyperboloid mit Mae-West-Taille
Heute ist Mae West als Femme fatale (auch im wahren Leben) und Wegbereiterin der Drag Queens berühmter als ihre Filme selbst. Vor allem Salvador Dalí hat ihren Nachruhm befeuert, 1934/35 mit einem Porträt ihres Gesichts, das sich in surrealer Manier als Wohnraum entpuppt. Die Einrichtung, mittendrin ein blutrotes "Lippensofa", ließ Dalí 1972 für sein "Teatre-Museu" im nordspanischen Figueres als begehbares Environment nachbauen.
Die jüngste Hommage an den Star ließ die Künstlerin Rita McBride 2011 über einem Autotunnel in München-Bogenhausen errichten. Durch die 52 Meter hohe Karbonstruktur "Mae West" fährt seitdem die Münchner Straßenbahn. Das sogenannte Rotationshyperboloid mit ausgeprägter Taille oberhalb der Skulpturenmitte erinnert an Wests Kostüme, die stets wie Panzerungen anmuteten. Mae West, die erst mit 39 zum Film kam, war curvy und entsprach schon damals keinesfalls dem Schönheitsideal.
Thema der "No Angels"-Retrospektive ist nicht zuletzt, welche Optionen weibliche Hollywoodstars in den 1930ern und 40ern hatten, gegen stereotype Frauenbilder zu opponieren. Rainer Rothers Begleitbuch zur Filmreihe ist jetzt schon erschienen, sodass man sich anhand der drei monografischen Texte darin bereits auf die 27 Filme der Schauspielerinnen – alle drei primär im Komödienfach zuhause – theoretisch vorbereiten kann. May West war eine der zentralen Vertreterinnen des Camp-Stils, wie ihn Susan Sontag 1962 in einem Essay beschrieben hat, der von einer schillernden, unterkühlten Theatralik geprägt ist.
Genderproblematik in Hollywood
Carole Lombard dagegen, die mit Clark Gable verheiratet war und 1942 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, neigte eher zum Unterspielen, hielt ironische Distanz zu ihren Rollen. Zu erleben etwa in "Sein oder Nichtsein" von Ernst Lubitsch, ihrem letzten Film, einer rabenschwarzen Komödie um ein Warschauer Theaterensemble, das die Nazis nach dem Überfall auf Polen an der Nase herumführt.
Dritte in Bunde ist Rosalind Russell (1907-1976), eine viel zu wenig bekannte Vollblut-Komödiantin, die als schlagfertige Zeitungsreporterin (neben Cary Grant) in Howard Hawks’ "His Girl Friday" (1940) brillierte. Außerdem gehörte Russell neben Joan Crawford und Norma Shearer zum All-female-Cast von George Cukors "The Women" (1939), ein Film, der es Rainer Rother erlaubt, die Perspektive zu weiteren Stars und zur Genderproblematik im Hollywood der Studio-Ära überhaupt zu öffnen. Ein lesenswertes Buch, das neben Mae Wests "I’m No Angel" Vorfreude auf die nächste, hoffentlich von Covid unbeeinträchtigte Berlinale weckt.