Yilmaz Dziewior und David Lieske über "Eurotrash"

"Wenn sich plötzlich ein Raum öffnet"

Yilmaz Dziewior, der Direktor des Kölner Museum Ludwig, sollte als Fan von Christian Kracht für uns über dessen neuen Roman "Eurotrash" schreiben. Am Ende wurde daraus ein Gespräch mit dem Künstler David Lieske über den Schriftsteller

1. Intro

So wie Charles Kinbote, der Herausgeber in Vladimir Nabokovs "Fahles Feuer", beim Eintreffen eines Manuskripts seines bewunderten Dichters Shades verspürte auch ich ein berauschendes Gefühl, als ich das Rezensionsexemplar des von mir so bewunderten Christian Kracht in einem Umschlag unter dem Arm hielt und an das Glück der Lektüre dachte, das mich erwarten sollte. Oder wie Kinbote es formuliert: "Feierlich wog ich in meiner Hand, was ich unter der linken Achsel trug, und für einen Augenblick fand ich mich um ein unbeschreibliches Erstaunen bereichert, als wäre mir die Botschaft kundgeworden, dass Leuchtkäfer im Namen gestrandeter Seelen entzifferbare Signale von sich geben oder dass eine Fledermaus eine lesbare Mär der Marter in den gebläuten und gebrannten Himmel schriebe." Auch wenn sich mein Englisch mit dem von Kinbote in seinem heftigen deutschen Akzent ähneln mögen, bin ich doch wesentlich einfacher gestrickt, deshalb drückte ich meine Vorfreude eher so aus:


Nach den "Toten" ist dies nun also schon mein zweites Buch, das ich von Kracht besprechen darf. Schon beim ersten suchte ich im Schrank des Autors nach allerlei Hinweisen dafür, was mich an seiner Literatur so besonders interessiert, und war eigentlich ganz zufrieden mit meinen Funden.

Bei einem Abendessen einige Wochen später in einer Kölner Gaststätte, nach einer Lesung mit Kracht, lächelte dieser jedoch nur verschmitzt, als ich ihn auf meine Bemühungen ansprach, seine Protagonisten aus dem closet zu holen und meinte, dass ich da wohl in der Tat einiges übersehen hätte.

 

2. Eurotrash

Und – kaum überraschend – bleibe ich auch bei seinem neuen Buch "Eurotrash" sofort bei Typen wie Philip Kinnboot hängen, dem angeblichen Patenonkel von Kracht, den dieser als kleiner Junge "zur Begrüßung immer einen Kuß auf beide Wangen" gab, "das habe er so gerne, wenn man ihm beide Wangen küßte". Hinzu kam, dass Kinnboot wie der Vater von Krachts Mutter "sadomasochistische Apparaturen" in einem verborgenen Zimmer besaß, jedoch in viel prächtigerer Ausführung als die des Vaters. So waren seine Dildos aus Gold. Und auch über den Freund des Vaters, den homosexuellen Stabsarzt Günter Kelch mit Spitznamen "Güntimäusi", dem dieser es verdankte, dass er im Zweiten Weltkrieg nicht an die Ostfront musste, ließen sich Bände füllen.

Aber da ich mich nur ungern zu offensichtlich wiederhole, musste diesmal ein anderer Take her. Also fragte ich den bildenden Künstler und Musiker David Lieske, den ich ähnlich genial (nicht im romantischen Sinne, versteht sich) wie den von mir so bewunderten Kracht finde, ob er Lust hätte, sich mit mir über seinen Freund Christian zu unterhalten. Mir scheint dies nicht nur wegen meines eigenen Fantums in Bezug auf beide produktiv. Sondern auch weil für beide Autobiografisches in ihre jeweilige Arbeit einfließt (bei Kracht sichtbar mehr als bei Lieske) und Fragen von vermeintlicher Authentizität die Rezeptionsgemüter ihrer Aktivitäten mitunter ähnlich erregt.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich David Anfang der 2000er-Jahre während meiner Zeit am Hamburger Kunstverein kennenlernte. Obwohl gerade einmal Mitte 20 ging ihm ein Ruf voraus, der eine "Karriere" als Jugendlicher in der Hausbesetzer- und Antifa-Szene ebenso beinhaltete wie sein damals schon legendäres, zusammen mit Peter Kersten alias DJ Lawrence betriebenes House-Label Dial. Lieske war 25, als ich ihn zu Ausstellung "Modernismus. Moderne Kunst, heute" im Hamburger einlud, wobei wir im Kunstverein schon knapp zwei Jahre zuvor Dial in einer kleinen Präsentation vorstellten. Zu meinen absoluten Lieblingsarbeiten von David Lieske zählt "Platoon (RL-X)", eine Installation, die er Anfang 2015 im Wiener Museum Mumok zeigte.

"Unter dem Titel Platoon (RL-X) wird der enge Nexus zwischen Legende und Werk, zwischen Person und Produkt des Künstlers verhandelt. Dass Künstler und Werk in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, dass mehr noch der Übergang von Leben und Werk heute fließend erscheint, ist die zentrale Prämisse dieser Ausstellung. In ihrem Zentrum steht das Buch I tried to make this work (Vol. I) – Lieskes Autobiografie, in der sein Leben auch im Sinne einer retrospektiven Verklärung erzählt wird. Basierend auf mehrwöchigen Gesprächen, wurde es von dem Schriftsteller Ingo Niermann aufgezeichnet und von Michael Ladner ins Englische übersetzt. In einer Auflage von 300 Exemplaren wird der Band in der Ausstellung präsentiert. Unter erhöhten Sicherheitsbedingungen kann diese autobiografische Skizze allerdings ausschließlich vor Ort eingesehen werden, was ihre spezifische Auftrags-und Produktionsbedingung ebenso in Erinnerung ruft wie ihre Anbindung an eine ortsspezifische Situation“, hieß es damals im Mumok-Pressetext.

Und um das Referenzgeflecht ein wenig zu erweitern, hier der Hinweis, dass es einen gleichnamigen Track von David Lieske alias Carsten Jost gibt:


3. Gespräch

Yilmaz Dziewior: Erzähl mir über dein Verhältnis zu Christian und woher du ihn kennst. Ich erinnere mich, dass du meintest, seine Frau, die Filmregisseurin Frauke Finsterwalder, sei deine "Sandkastenfreundin".

David Lieske: Wirklich kennengelernt habe ich Christian erst, als er mich dazu überredete, mit ihm durch den Eisbach im Englischen Garten zu floaten. Christian kam damals direkt aus Basel, wo er bei einem Kongress zum 100. Geburtstag von Albert Hofmann als Laudator gesprochen hatte. Auf dem Weg zum Englischen Garten, den ich auf dem Gepäckträger seines Schweizer Armeefahrrads zurücklegte, erzähle Christian mir vom aktuellen Stand der Einhornforschung. Niemals werde ich den sensorischen Schock vergessen, der das Floaten im Eisbach bei mir auslöste. Die Verbindung von Psychostimulanz und floating kommt ja schon in Ken Russells genialer Paddy-Chayefsky-Verfilmung "Altered States" von 1980 vor. Wir wollten uns dann zu Pferden (die wir für Einhörner hielten) hintreiben lassen, hatten aber Angst wegen den spitzen Fahrradspeichen, die Rentner nachts in den Eisbach stecken, um dieses Sichtreibenlassen zu verhindern. Aus dem Bach stiegen wir schlussendlich direkt hinter dem Schumann’s, wo wir völlig durchnässt einen ihrer berühmten "Fernsehteller" aßen. Später fuhren wir wieder zu zweit auf Christians Fahrrad zu der winzigen Wohnung, die er gemeinsam mit Frauke Finsterwalder bewohnte und in dessen Gästezimmer ich in einen tiefen Schlaf fiel. Auf meinen Nachttisch hatte Christian ein Buch über den expressionistischen Architekten Herman Sörgel gelegt, dessen monumentales Staudamm-Projekt "Atlantropa" durch die Verdunstung des Mittelmeeres zum Ziel hatte, Europa nachhaltig mit Afrika zu verbinden. Dieser besonders schöne Tag in München war mir immer wie direkt aus dem Roman "In Youth is Pleasure" von Denton Welch vorgekommen, über den John Waters einmal sagte, seine Existenz würde Analphabetismus zu einem schlimmeren sozialen Verbrechen als Hunger machen.

Und Frauke Finsterwalder?

Frauke Finsterwalder traf ich zum ersten Mal im Alter von 13 oder 14 Jahren bei einem Vorbereitungstreffen Hamburger Antifagruppen zur potenziellen Teilnahme am Gründungskongress einer neuartigen bundesweiten Antifa-Struktur. Die sich zu dieser Zeit in Entstehung befundene "Antifaschistische Aktion - Bundesweite Organisation" (AA-BO) ging auf eine Initiative der damals frisch nach 129a kriminalisierten Göttinger Antifa (M) zurück und wurde unter den notorisch organisationsfeindlichen Autonomen AntifaschistInnen sehr kontrovers diskutiert. Frauke und ich waren als VertreterInnen unserer in sich gegenüberliegenden Hamburger Vororten beheimateten Antifa-Jugendgruppen anwesend (ich Antifa Elbvororte, Frauke Antifa Walddörfer) und lernten uns darüber kennen und mögen, dass wir die Idee der AA-BO euphorisch begrüßten beziehungsweise in diesen Pre-Internet-Tagen eine solche Art der überregionalen Vernetzung geradezu herbeisehnten. Ich erinnere mich noch, dass an diesem Treffen auch die einzige Überlebende der Stammheimer Blutnacht, Irmgard Möller, teilgenommen hatte, deren aschfahle Gefängnis-Haut mich damals stark ängstigte und bis tief in meine jugendlichen Alpträume verfolgte. Frauke schenkte mir an diesem Tag den Roman “Die Unsichtbaren” von Nanni Balestrini, von dem ich immer noch hoffe, dass sie ihn eines Tages verfilmen wird.

Hast du wie ich alle Bücher von Christian gelesen und wenn ja, welches gefällt dir am besten?

Kurz nachdem ich 2004 von Hamburg nach Berlin gezogen war und noch niemanden in der Stadt kannte, besuchte ich auf Empfehlung von Frauke den Journalisten Ingo Mocek in seiner damals schon sehr glamourösen Fünf-Zimmer-Wohnung am Alexanderplatz. Er war schrecklich erkältet, schniefend und jammernd lag er auf einem grünen Neon-Sofa von Philippe Starck. Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum er dem Treffen überhaupt zugestimmt hatte, war er doch offensichtlich in keinem Zustand, um Gäste zu empfangen. Als ich zu ihm in die Wohnung kam, lief im Hintergrund aus großen bizarr geformten Designer-Lautsprechern eine ganz außergewöhnliche Stimme, die eine höchst seltsame Geschichte erzählte. Diese Stimme zog mich sofort in ihren Bann, sie klang konsequent, so wie eine Stimme eigentlich nur in diesem ganz besonderen Moment klingt, an dem sich im Hals ein so großer Kloß geformt hat, dass man vielleicht noch ein oder zwei Wörter herausquetschen kann, bevor einem die Tränen kommen und das weitere Sprechen unmöglich werden würde. Seltsamerweise verharrte die Stimme aber genau in dieser Reizzone kurz vor dem Abgrund ins Sprachlose. Da Ingo und ich uns ja nicht kannten und er auch nicht wirklich in dem Zustand war, ein Gespräch zu beginnen, hörten wir einfach die Geschichte weiter bis zum Ende der eingelegten CD. Ingo sagte dann, dass er jetzt müde sei und sich lieber hinlegen würde, ich die CD-Box von "1979", gelesen vom Autor Christian Kracht selbst, aber gerne mit nach Hause nehmen könnte. Ich sah Ingo niemals wieder aber raubkopierte die "1979"-CD viele hundert Male und schenkte die Kopien allen meinen neuen Berliner Freunden. Seltsamerweise blieb mir aus der "1979"- CD besonders die völlig belanglose Szene in Erinnerung, in der überraschend die Künstlerin Antje Majewski auftaucht. Im gesprochenen Text heißt es, ihre Gemälde seien oft "in Zeitschriften wie Quick oder Stern abgebildet worden". Wenige Wochen zuvor hatte ich das Glück, Antje Majewski auf einer Eröffnung persönlich kennenzulernen. Ich hatte damals meine Chance genutzt, um sie zu fragen, ob sie deswegen die Fotografien russischer Frauengefängnisse so akribisch abmalte, um diese düsteren Motive in dem langwierigen und zeitintensiven Prozess der Ölmalerei wirklich vollständig zu durchdringen. Sie lachte mich damals aus und ergänzte, dass sie so gut malen könne, dass sie mühelos dabei stundenlang fernsah, alles was so auf Sat.1 oder RTL am Vormittag drankäme, "Glücksrad", "Deal or No Deal", "Was weiß ich?!" … Als ich Jahre später das Buch "1979" in der hebräischen Übersetzung las, musste ich übrigens festellen, dass die besagte Szene mit Antje Majewski im Originaltext anscheinend gar nicht vorkommt.

Es hat mich amüsiert zu lesen, dass du deine Ausstellung in der New Yorker Galerie Alex Zachery 2010 den Titel "Imperium in Imperio" geben hattest. Dies war zwei Jahre bevor "Imperium" von Christian erschien. 2010 nannte Cosima von Bonin ihre Ausstellung im Kunsthaus Bregenz "The Fatigue Empire." Wenn ich den Begriff Imperium oder Empire höre, muss ich immer sofort an den Theorieklassiker "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri aus dem Jahr 2000 denken, in dem diese die Multitude als mögliche Form des Widerstandes gegen den Kapitalismus ansahen. Wie kam es zu deinem Titel?

Während wir bei einem gemeinsamen Reiturlaub in Niederbayern versuchten, das Springreiten zu erlernen, hatte Frauke erfahren, dass sie zum Studium an der berühmten Hochschule für Fernsehen und Film in München zugelassen worden war. Wir entschieden damals gemeinsam, dass es das Einfachste wäre, wenn ich nach unser beider Rückkehr von Hamburg in ihre Berliner Wohnung, die ja frei werden würde, zur Untermiete ziehen würde. Nach der traumatischen Trennung von einem sehr gutaussehenden jungen Terrorismusexperten, mit dem ich einige Jahre eine höchst problematische Beziehung geführt hatte, wollte ich Hamburg sowieso so schnell wie möglich verlassen. Frauke musste ihren Umzug sehr schnell über die Bühne bringen, um rechtzeitig zum Studiumsbeginn in München anzukommen. Als ich kurz danach die Wohnung übernahm, fand ich in einem ihrer vielen Einbauschränke eine Fotografie von ihrem Vater, auf deren Rückseite sie eine Frage notiert hatte: "Ist die Familie ein Staat im Staat?" Teil der Ausstellung bei Zachary war ein Siegelring, den mein Opa in den 60er-Jahren für sich selbst, seine Frau und seine zwei Kinder anfertigen ließ. Es war wohl seine Absicht gewesen, den engsten Familienmitgliedern auf diese Art und Weise eine royale Herkunft anzudichten. Da er sich mit Siegeln wohl nicht gut auskannte, verwendete er für seinen ausgedachten Siegel-Entwurf alle möglichen Insignien der Macht gleichzeitig und durcheinander. Meine Mutter trägt diesen in seiner Symbolik völlig überdeterminierten Siegelring übrigens bis heute. "Imperium in Imperio" ist auch der Titel eines historischen Romans von Sutton Griggs, der 1899 veröffentlicht wurde. Der Roman behandelt das Leben von Belton Piedmont, einem gebildeten afroamerikanischen Mann im Jim-Crow-geprägten Süden, und seine Rolle in einer schwarzen Schattenregierung, die von einem College in Waco, Texas, aus geführt wird.

Du scheinst mit Christian Kracht eine Vorliebe für Mode beziehungsweise bestimmte Kleidungsstile zu teilen. Bei ihm ist es offensichtlich – allein schon ein Titel wie „Faserland“ oder wie spezifisch er den Habitus seiner Figuren anhand deren Kleidung beschreibt. Wie würdest du dein Interesse an Mode und Kleidung im allgemeinen charakterisieren, auch im Vergleich oder Abgrenzung zu Christian Kracht?

Ich werde nie vergessen, wie mich kurz nach meiner Ankunft in Berlin-Mitte die Kunstkritikerin Isabelle Graw auf der Alten Schönhauser Straße stellte. Mit einem strengen Blick herab auf meine blaue Steppjacke fragte sie mich damals: "Ist das nicht die im Roman 'Faserland' von Christian Kracht beschriebene Barbour-Jacke?" und nachdem ich nach einer kurzen unangenehmen Pause immer noch nicht geantwortet hatte, fuhr sie zackig fort: "Leider ja!" Bis dahin war mir die negative Konnotation des sogenannten English Country Clothings überhaupt nicht klar gewesen, war es doch die Alltags-Uniform der Hamburger Elbvororte, in denen ich aufwuchs und im lokalen Sinne bedeutungsneutral. Ich glaube, die exzessiven Bekleidungs-Beschreibungen hat sich Christian bei Bret Easton Ellis abgeschaut. Dieser erzählerische Kniff, der gleichzeitig Nähe und Distanz zu einer Figur herstellt und nebenbei mühelos einige Extra-Zeilen füllt (Christian verwendet in seinen Büchern gerne den doppelten Zeilenabstand), sollte man vielleicht nicht mit zu viel Bedeutung aufladen. Ich würde sogar noch weitergehen: Nur in Deutschland, dem Land, in dem allen Dingen, die über das absolut Notwendigste hinausgehen, unausgesetzt mit Vernichtung gedroht wird, fällt so ein Detail überhaupt derartig ins Gewicht. Die symbolische Barbour-Jacke geistert ja heute immer noch durch Kracht-Besprechungen. Absurd, meiner Meinung nach. Eigentlich verachtet Christian, ganz im Gegenteil zu mir, die Mode. Das kommt ja zum Ausdruck gerade in seinem aktuellen Roman, in dem er sich zum Beispiel über den Hermès-Fimmel seines Vaters äußert, der nur dessen Angst zugeschrieben wird, als sozialer Emporkömmling enttarnt zu werden. Was mich an Mode immer interessiert hat, ist grade das Künstliche, die Imitation "echten" Lebens, das ein Tor in eine Art selbstbestimmte Hyperrealität öffnet. Es gehört vielleicht besonders zu den Errungenschaften queerer Überlebensstrategien, und das ist vielleicht auch etwas, dass Schriftsteller wie Édouard Louis überhaupt nicht verstehen, dass Mode tatsächlich eine klassentranszendierende Realität zu erschaffen vermag. Wer sich immer schon verstellen musste, darf sich auch im späteren Leben gerne qua Oberfläche jede gesellschaftliche Rolle aneignen. "We are all born naked and the rest is drag." Ru Pauls Bourdieu-Moment.

Du hast eine dezidierte Vorliebe für Tennis, eine Sportart, die mit ihrem Glamourappeal gut in die Romane von Kracht passen würde. Was hat es mit deinem Interesse an Tennis auf sich?

Mein Interesse am Tennissport ist meinem Großvater geschuldet, der mich bereits im Alter von acht Jahren gegen gute Bezahlung auf dem Tennisplatz als Balljunge beschäftigte. Er war damals im Textilgewerbe tätig, fuhr einen Porsche 928 (der mit den Schlafaugen) und nutzte den Tennisclub dazu, besonders enge Bünde mit Geschäftspartnern zu knüpfen. Es galt bei diesen Zusammentreffen als besonders schick, eigene Balljungen zu präsentieren. Ich mochte die statischen Bewegungen, die mir mein Großvater beibrachte, wie zum Beispiel das korrekte Anbieten der Bälle, die dann bei Bedarf mit durchgestreckten Arm den Herren zugeworfen wurden. Ich bekam regelmäßig neue schneeweiße Outfits von der Firma Lacoste, die ich sehr gerne trug. Ich liebte die Polohemden und Short-Shorts mit Abnähern und die ganze sexy Atmosphäre des Clubs. Nach den Matches wusch mir mein Großvater unter der Dusche der Herrenumkleide die Haare und wir tranken anschließend "aufgespritzte" Limonade im Clubhaus. Tennis vermag, zwischen den Kontrahenten trotz großer Distanz eine erschreckend intime Verbindung herzustellen. In diesem Sinne ist Tennis sicher mit dem Kampfsport eng verwandt. (Aggression in der Abwesenheit von Gewalt ist im Tennis wie im Kampfsport ein Thema.) Tennis ist für mich heute als Regionalliga-Spieler eine besondere Herausforderung, da ich über wenig sportliches Talent verfüge. Erfolg und Misserfolg stellt sich beim Tennis in gewonnenen Punkten, Spielen und Matches da. Es gibt keine Möglichkeit, sich da herauszureden. Es zählt buchstäblich, was man auf den Platz bringt. Die brutale Einfachheit des Wettkampfes empfinde ich besonders in einer post-faktischen Gesellschaft, in der wir leben, als angenehm. Wer sich für Tennis und Literatur interessiert, dem sei der autofiktionale Roman “Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht” der ehemaligen Top-10-Spielerin Andrea Petković empfohlen. Sie beschreibt darin die Schönheit ihrer professionellen Tenniskarriere als eine Serie des Scheiterns und der Misserfolge.

Über "Eurotrash" wurde bereits viel geschrieben. In fast allen größeren Medien gab es Besprechungen, mit wenigen Ausnahmen fast alle positiv. Was findest du besonders bemerkenswert an dem neuen Buch von Christian Kracht?

Wie du schon sagst, wurde Christians neuer Roman so ausführlich besprochen, dass ich gar nicht zu viel hinzufügen möchte. Vielleicht nur soviel, Christian hat es in "Eurotrash" geschafft ein Lebensgefühl zu beschreiben, dass sich im nüchternen und post-therapeutischen Selbst jenseits der 40 einstellt, wenn die eigenen Abgründe so weit ausgelotet sind, dass sich plötzlich ein Raum öffnet, in dem sich der Blick zwangsläufig ins familiäre Außen richtet. Musstest du nicht auch sofort an die jüngsten Werke der Berliner Malerin Amelie von Wulffen denken? Ich sehe hier eine Verbindung. Das ist ein zweischneidiges Schwert, weil nun eine Trauerarbeit beginnt, die mit der Einsicht zusammenhängt, dass die eigene Kaputtheit, die man sich als Jugendlicher, oft bis in die Mitte der 30er hinein, als Konzept der Selbstermächtigung erarbeitet hat, wirkungslos geworden ist. Das steht einem einfach nicht mehr zur Verfügung. Es wird sogar noch schlimmer, wenn man dann feststellt, dass die Kaputtheit, die man als junger Mensch noch als etwas Exklusives, sich von der Welt Abgrenzendes erfahren hat, allem, was einen umgibt, auf immer und ewig eingeschrieben war und ist. Eine Stelle in "Eurotrash" erinnerte mich ganz besonders an meinen Großvater, und seltsamerweise war es genau das Zitat, das meine Mutter mir nach dem Lesen zuschickte: "So war mein Vater ein enormer Machtmensch gewesen, der durch die Quälerei und die Erniedrigung anderer sich den für ihn nötigen Abstand und eine undurchdringliche Schutzhaut erschaffen konnte. Und manchmal hatte ich mich gefragt, ob nicht meine gesamte Familie sich von den Erniedrigungen anderer nährte, von einem Elitebewusstsein, das in Wirklichkeit das Gebaren einer Mittelschicht war, die in die Oberschicht hinaufwollte und gleichzeitig vor nichts mehr Angst hatte als vor ihrer eigenen proletarischen Herkunft."