Immersive "Experiences"

Warum wollen gerade alle in Van Gogh eintauchen?

Was wollen wir nach der Pandemie sehen? Anscheinend eine Welle von immersiven, multimedialen Ausstellungen, am besten über Van Gogh. Dass eine Netflix-Serie der Auslöser war, ist nur die halbe Wahrheit

Das Besondere an einer globalen Krise sind die vielen Erfahrungen, die sich zwar intim anfühlen, aber in Wahrheit von unzähligen Menschen in sehr ähnlicher Form geteilt werden. Bestimmt wird es eine Erleichterung sein, nach der Pandemie im Alltag wieder eigene Wege zu gehen und den persönlichen Vorlieben zu folgen. Mit einer Ausnahme: An den intimen, impressionistischen Gemälden von Vincent van Gogh führt dieses Jahr kein Weg vorbei.

Weltweit rechnen Veranstalter mit Millionen von Besuchern, die aus der Corona-Isolation herausstolpern und sich als erstes in einem immersiven Van-Gogh-Experience einigeln. Das gilt vor allem in den USA, wo solche Ausstellungen an 16 Orte kommen und schon für Monate im Voraus ausverkauft sind. Auch in deutschen Städten wie München und Berlin werden Ableger der gleichen Ausstellungen bei erster Gelegenheit eröffnen.

Immersion basiert zwar auf moderner Licht- und Videotechnik, steht jedoch im starken Kontrast zu den digital vermittelten Kunsterfahrungen der vergangenen Monate. Der Körper muss vor Ort sein, er taucht in meterhohe Projektionen von Van Goghs Arbeiten ein, für die man sich die Freiheit genommen hat, sie zu rasanten Videos zu animieren. Sternenhimmel und Sonnenblumen überspannen dann nicht bloß freistehende Wände, dreidimensionale Objekte und die Decke. Sie bedecken wie ein Tuch auch den Boden, die dort sitzenden Träumer und rennenden Kinder. Auf die verbleibenden Sinne zielen die klassische Musik und die Duftaromen, etwa Muskatnuss. Gemeinsam sollen diese Eindrücke eine Geschichte erzählen und Besucher schon zu Tränen gerührt haben.

Es konkurrieren verschiedene Veranstalter

Schwer zu sagen, was einen im Detail erwartet, denn aktuell konkurrieren sechs verschiedene Veranstalter um das beste Erlebnis. So bekommt Berlin "Van Gogh: The Immersive Experience" aus über 500 Bildern, kreiert von einem belgischen Unternehmen. In München hingegen heißt das Spektakel "Van Gogh Alive" – das ist die australische Konkurrenz mit über 3000 Bildern im Gepäck. In Großstädten wie New York, London, Boston und Miami duellieren sich zwei Veranstalter in direkter Nachbarschaft, geben ihren Events aber möglichst ähnliche Namen und beanspruchen jeweils für sich, das Original zu sein.

Kombiniert mit den noch geheimen Orten, die der Social-Media-Kampagne einen Pop-up-Charakter verleihen sollten, hat das schon bizarre Blüten getrieben. Dass es bei den Tickets regelmäßig zu Fehlkäufen kommt, ist durch die Beschwerden belegt, die bei amerikanischen Verbraucherstellen eingehen. Diese warnen mittlerweile vor dem undurchsichtigen Marketing. Gefälschte Van Goghs sind das eine, gefälschte Ausstellungen von einem anderen Kaliber. Sogar Kritikerinnen und Kritiker verwechseln sie in ihren Artikeln.

Warum explodiert die Zahl der immersiven Experiences gerade jetzt? Neu ist das Konzept nicht. Die Berliner Ausstellung wandert seit 2017 um die Welt, die Münchner Version sogar seit 2011. Digitale Immersion ist zu einer festen Größe in der Kunstwelt geworden. Das stand spätestens fest, als man ihr eigene Museen in Tokio (2018), Shanghai (2019) oder Amsterdam (2020) widmete; so ähnlich, wie die diesjährigen Van-Gogh-Installationen in New York, Melbourne und Indianapolis als Dauerausstellungen erhalten bleiben sollen.

Ist "Emily in Paris" schuld?

Die Spur führt nach Paris, in das Atelier des Lumières, wo 2018 ein dritter Wettbewerber ("Immersive Van Gogh", aber nicht der Berliner) Premiere feierte und seitdem drei Millionen Besucher verzeichnete. Gesehen haben diese Show noch ein paar Menschen mehr. Netflix wählte sie als Kulisse für eine Szene der Serie "Emily in Paris" aus. Emily (Lily Collins) ist eine gebürtige Amerikanerin, die zwar in Paris lebt, aber sich von einem Fotostopp zum nächsten hangelt, ohne je nur an der Oberfläche der Stadt zu kratzen. Dazu passten die schillernden Lichtteppiche besonders gut. Da die Serie beim Publikum ein großer Erfolg war, wird der Ansturm auf Van Gogh gern mit dem Netflix-Effekt in Verbindung gebracht.

Obwohl es naheliegt, nach dem Lockdown eine Ausstellung zu besuchen, vor deren Fernsehbild man im Lockdown Mangel gelitten hat, ist das nur ein kleiner Teil der Erklärung. Mag sein, dass die von vielen aus Hass oder Selbsthass angesehene "Emily in Paris"“ einen psychoanalytischen Zugang zu den Bedürfnissen der Zuschauer hatte, wie ihn ihr einige Meta-Rezensionen zuschreiben wollten. Doch das flächendeckende Angebot war zuerst da.

Immersive Van-Gogh-Ausstellungen rentieren sich vor allem für die Veranstaltungsbranche und sollen ihr jetzt durch die Krise helfen. Sie kombinieren die Massentauglichkeit des Konzepts mit der des Künstlers. Die Ticketpreise liegen in Deutschland bei circa 20 Euro, können in den USA aber von 40 Dollar bis zu dreistelligen Beträgen reichen, während viele der Kosten einer herkömmlichen Ausstellung hier wie dort wegfallen.

Ins Geschäft mit dem Licht getrieben

Für den Privatsektor ist das eine willkommene Chance. In Berlin sah sich ein Konzertveranstalter wegen Covid-19 gezwungen, auf das immersive Van-Gogh-Experience umzuschulen, wie er der "Berliner Zeitung" erzählte. Ein weiteres Beispiel sind die Maag-Hallen in Zürich, die sich ihre Betreibergesellschaft nicht mehr leisten konnte. Bis zum September werden sie zu einem "Museum für immersive Kunst" nach Vorbild des Atelier des Lumières umgewidmet. Gezeigt werden in Zürich neben neuen Eigenproduktionen auch ein immersiver Paul Klee, Ferdinand Hodler – und natürlich Vincent van Gogh.

Besonders offen sprach Charles Venable über die Geldfrage. Der Ex-Direktor des Indianapolis Museum of Art ließ den gesamten vierten Stock seines Museums ausräumen, um Platz für Immersion zu schaffen. Bis November wird dort eine permanente Version der Münchner Ausstellung "Van Gogh Alive" eingerichtet. Venable begründete den Schritt damit, dass er mehr Tickets verkaufen und eine neue Klientel erreichen müsse, sich die nötige Kunst als Leihgabe nicht mehr leisten könne und so geradezu in das Geschäft mit dem Licht getrieben werde. Außerdem: Auch weit renommiertere Adressen hätten sich schon mit Reproduktionen zu helfen gewusst.

Sind die "Experiences" Kitsch und Geschichtsklitterung?

Das stimmt einerseits. Aber Venable verschweigt, dass die Gegner von immersiven Ausstellungen ja nichts gegen Nachbildungen an sich haben, sondern gegen deren mangelnde Originaltreue, was Farbe und Textur angeht. Hinzu kommen Kitsch und Geschichtsklitterung als weitere Gründe, warum die "Experiences" von Kritikern bisher eher verschmäht werden.

Hier schließt sich der Kreis zu "Emily in Paris", die den Hype zwar nicht gestartet hat, ihm jedoch als eine Ermutigung dienen darf. Denn ein Hauptmotiv der Netflix-Serie war der Clash zwischen einer puristischen Pariser Elite, die nach Feierabend eher nicht im Atelier des Lumières einkehrt, und Emilys schonungslosem Pragmatismus, der sie letztlich erfolgreicher als ihre französischen Kolleginnen macht.