Gedenken an Corona-Tote

"Wir brauchen mehr Bilder der Trauer"

Die Zahl der Corona-Toten in Deutschland steigt immer weiter, doch öffentlich wird kaum um die Opfer der Pandemie getrauert. Die Kunsthistorikerin Brigitte Kölle plädiert dafür, Trauer zuzulassen und Bilder für den Verlust zu finden

Die Zahl der Menschen, die in Deutschland in Verbindung mit dem Corona-Virus gestorben ist, hat nach offiziellen Angaben inzwischen die Marke von 40.000 überschritten. Erst am gestrigen Donnerstag wurde mit 1244 Todesfällen innerhalb eines Tages ein neuer Höchststand gemeldet. Obwohl die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie von Anfang an mit dem Schutz von Menschenleben begründet wurden, wird um die Toten der Pandemie kaum öffentlich getrauert.

Die öffentliche Debatte ist aufgeheizt und polarisiert. Wenn über Tote gesprochen wird, geht es meist um Übersterblichkeit und die Frage, ob das neuartige Virus wirklich so gefährlich ist, dass es die Einschränkung von Grundrechten rechtfertigt. Inzwischen haben sich private Initiativen gebildet, die mit spontanen Mahnwachen und improvisierten Denkmälern an die Verstorbenen erinnern, doch noch immer gibt es wenige Bilder der Trauer in der Pandemie.

Warum das so ist, haben wir die Kunsthistorikerin Brigitte Kölle gefragt, die in der Hamburger Kunsthalle im Frühjahr 2020 eine Ausstellung zum Thema Trauern in der Kunst kuratiert hat. Sie geht davon aus, dass sich an öffentlichen Akten der Trauer auch eine Hierarchie festmachen lässt, welche Leben in einer Gesellschaft wertgeschätzt werden. Kölle erwartet, dass es mit der Zeit immer mehr Bilder für die Verlusterfahrungen in der Pandemie geben wird - und setzt dabei auch auf die Kunst. 


Frau Kölle, viele Menschen wachen seit einem Dreivierteljahr täglich mit neuen Zahlen auf: Wie viele gemeldete Neuinfektionen, wie viele Todesfälle "an oder mit Corona"? Nun wird verstärkt darüber diskutiert, dass in den Statistiken die einzelnen Schicksale untergehen. Teilen Sie diesen Eindruck?

Ja, auf jeden Fall. Die Statistiken bleiben abstrakt und werden in den Medien auch immer mit den gleichen Bildern unterlegt. Wir sehen Aufnahmen von Intensivstationen mit einem Gewirr von Schläuchen, vielleicht mal einen nackten menschlichen Fuß oder einen Rücken. Das sind natürlich furchtbare Szenen, aber die Gesichter und Geschichten dahinter bleiben größtenteils unsichtbar, wenn man nicht persönlich in seinem Umfeld betroffen ist.

Warum, denken Sie, ist das so?

Einmal ist das natürlich eine Frage von journalistischer Aufarbeitung und den Bildern, die zur Verfügung stehen. Es gilt ja auch, die Privatsphäre der Verstorbenen zu wahren. Andererseits passt diese Beobachtung zur allgemeinen Tendenz in unserer Gesellschaft, den Tod von sich wegzuhalten. Trauer findet meist hinter verschlossenen Türen statt, genau wie sich das Sterben in der Pandemie hinter verschlossenen Türen abspielt. Wir beobachten eine Privatisierung der Trauer, auch wenn es immer wieder mal fast hysterische öffentliche Trauerbekundungen für berühmte Persönlichkeiten gibt. Das sind aber eher Ventile. Im Großen und Ganzen sind wir nicht gut darin, unsere Trauer in der Öffentlichkeit zuzulassen – und sie ist auch nicht gern gesehen, weil wir ihr oft hilflos gegenüberstehen. Trauer wird zudem zunehmend pathologisiert. In der aktuellen Ausgabe des Diagnose-Handbuchs der US-amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft ist davon die Rede, dass es ein Hinweis auf eine psychische Erkrankung sein kann, wenn eine Person zwei Wochen nach einer Verlusterfahrung noch Anzeichen von Leiden wie Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit oder häufiges Weinen zeigt. Das finde ich extrem.    

Es gibt sehr viele Bilder von Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, bei denen sich die Demonstrierenden extrem medienwirksam inszeniert und viel Raum bekommen haben. Bilder der Trauer um die Verstorbenen gibt es dagegen wenige, obwohl die Todeszahlen seit dem Herbst stark gestiegen sind. Beeinflusst das unseren Blick auf die Pandemie?

Sicherlich prägt das. Auf den Demonstrationen sieht man Menschen in Aktion, man sieht Gesichter. Diese Empörung hallt nach. Bilder von Tod und Trauer bleiben auch wegen des Versammlungsverbots und der Beschränkungen für Trauerfeiern dagegen eher abstrakt. Die Trauernden sind auf sich zurückgeworfen, weil es schwer ist, Trauer eine öffentliche Form zu geben und selbst Beerdigungen im großen Rahmen nicht möglich sind. Wir hatten die Fotos von Särgen aus Bergamo oder aus New York, aber das war es dann auch. Das muss sich ändern, aber ich glaube, das wird es auch. Wir brauchen differenziertere und diversere Erzählungen und Bilder, in der verschiedene Facetten von Verlust und Trauer thematisiert werden.

Wie können die entstehen?

Da sind wir wieder bei der Kraft und dem Potenzial von Kunst und Kultur. Deswegen ist es ein Dilemma, dass die Kulturinstitutionen zur Zeit geschlossen sind. Es sind ja gerade die Künstlerinnen und Künstler, die den Mut haben, so etwas wie Verletzlichkeit und Verstörung zu thematisieren, also das, was wir alle gerade erleben. Ich denke da an Beuys und seine Installation "Zeige deine Wunde!". Das Werk ist geradezu programmatisch.  

Sie haben 2020 noch vor dem Lockdown eine Ausstellung über die Trauer in der Kunst kuratiert. Welche Rolle spielt diese in der Kunstgeschichte?

Trauer ist ein Thema, das sich durch alle Epochen zieht. Zugleich werden die bestehenden Bilder und Pathosformeln auch immer mitreflektiert. Ich denke zum Beispiel an Fotografien von Anne Collier, die in der Ausstellung zu sehen waren. Bei ihr sieht man die Pathosformel der Träne in der Ästhetik von Comics der 50er- und 60er-Jahre, in denen das Stereotyp der jungen, schönen weinenden Frau produziert wurde. Gleichzeitig ist die Arbeit in ihrem vergrößerten Bildraster eine Referenz an die Kunst von Roy Lichtenstein, und offenbart zudem geschlechtsspezifische Rollenbilder.

Was kann man von der Kunst über Trauer lernen?

Künstlerinnen und Künstler fragen, welche Bilder wir uns von der Trauer machen und dekonstruieren diese. Sie kommen aber auch auf ganz neue Bildfindungen. Maria Lassnig beispielsweise hat nach dem Tod ihrer Mutter so genannte Beweinungsbilder gemalt. Auf einem Bild sieht man die Künstlerin selbst, vom Leichnam ihrer Mutter abgewandt. Sie schaut uns an, und ein Auge ist mit einem Balken wie eine Art Lichtstrahl durchstoßen. Das hat man vorher so noch nie gesehen. Lassnig hat aus der Erfahrung einer tiefen persönlichen und künstlerischen Erschütterung eine neue Bildwelt geschaffen. 

Sie haben die Ausstellung vor dem ersten Lockdown im letzten Frühjahr eröffnet, dann schließen müssen und nach den Lockerungen im Mai wieder geöffnet. Hat sich die Rezeption der Schau durch die Pandemie-Erfahrung verändert?

Das Interesse war schon bei der Eröffnung groß, und nach der Wiedereröffnung noch einmal enorm. Ich hatte das Gefühl, dass die Ausstellung neu betrachtet wurde. Die Pandemie hat uns allen unsere Verletzlichkeit aufgezeigt, und dass wir nicht immer alles kontrollieren können. Das verunsichert und ist nicht angenehm. Und Künstlerinnen und Künstler gehen dahin, wo es weh tut. Trotz aller Schwierigkeiten finden sie Worte, Bilder oder auch Klänge für das, was sich so schwer darstellen lässt. Wenn wir die ansehen und erleben, merken wir auch, dass wir nicht allein sind.

Sie haben eben Maria Lassnig angesprochen: Gerade zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler verarbeiten auch persönliche Trauer, machen diese aber durch ihre Werke öffentlich. Wenn Andy Warhol die trauernde Jacky Kennedy darstellt, geht es um ein kollektives Bildgedächtnis. Ist Trauer in der Kunst auch eine Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Privatem?

Ja, immer. Zuallererst ist die Trauer ein ganz individuelles Gefühl, weil der Verlust einen persönlich betrifft. Aber es gibt immer eine Dimension, die nach außen weist, eine Äußerung oder ein Kundtun. Im Englischen zeigt sich das schon in der Sprache, weil es anders als im Deutschen mit "grief" und "mourning" zwei verschiedene Wörter für diese beiden Facetten gibt. Andy Warhol hat das sehr gut eingefangen, indem er Jacqueline Kennedy als Ehefrau und Witwe, aber gleichzeitig als First Lady zeigt, in deren Gesicht eine kollektive Trauer gleichsam gespiegelt wird. Er hat eine Ikone der Trauer geschaffen.

Nun gibt es verstärkt die Forderung, in der Pandemie mehr öffentliche Trauer zuzulassen. Zum Beispiel hat der Autor Christian Y. Schmidt die Initiative "Corona-Tote sichtbar machen" gegründet, die jeden Sonntagabend im öffentlichen Raum Kerzen für die Verstorbenen anzündet. Waren solche Bilder überfällig?

Ich glaube, dass sie sehr wichtig sind. Professionelle Trauerbegleiter erinnern immer wieder daran, dass Rituale helfen und dass jeder eine Form finden muss, die sich richtig anfühlt. Und gerade in Zeiten, wo Abschied nehmen wegen der Kontaktbeschränkungen schwierig ist, können solche symbolischen Aktionen hilfreich sein. Besonders, wenn sie aus einem Bedürfnis heraus entstehen und einem Gefühl eine eigene Form gegeben wird – und das Gedenken nicht von oben verordnet ist und nach "Schema F" funktioniert. Wir sprechen heute übrigens auch nicht mehr von "Trauerarbeit" nach der Idee von Sigmund Freud. Trauer ist nichts, durch das man sich "durcharbeiten" kann und dann ist es erledigt. Trauer ist eher ein Sediment, das sich absetzt und einen Menschen in unterschiedlicher Intensität begleitet.

Bräuchte es einen offiziellen Gedenktag mit Staatsakt für die Corona-Toten, wie es ihn zum Beispiel in Spanien gab und der auch in Deutschland schon angedacht wurde?

Bei Gedenktagen bin ich eher skeptisch, wenn sie verordnet und normiert werden. Denken Sie an den Volkstrauertag als stillen Gedenktag an die Kriegstoten, der heute auch nicht mehr so relevant ist, wie er mal war. Wenn es solche Rituale gibt, müssen Sie mit Leben gefüllt werden.

Am Anfang der Pandemie kamen die Schreckensbilder von sich stapelnden Särgen aus Bergamo oder New York. Nun wurden solche Fotos beispielsweise auch aus Krematorien in Sachsen veröffentlicht. Finden Sie es angemessen, diese Bilder zu zeigen, oder verstehen Sie den Vorwurf, das sei pietätlos oder Panikmache?

Die gestapelten Särge sind natürlich ein starkes, eingängiges Bild. Da sie eine Facette der Realität sind, halte ich es für gerechtfertigt, sie in den Medien zu zeigen. Das würde ich nicht als Panikmache bezeichnen, ich finde eher schwierig, wenn man behauptet, das gäbe es alles gar nicht. Aber ich wünsche mir, dass es nicht bei den immer gleichen Schreckensbildern bleibt, die sich im Bewusstsein festsetzen, sondern dass wir viele unterschiedliche Bilder und Erzählungen aus dieser Zeit erhalten. Dazu setze ich wie gesagt meine Zuversicht auf die Kunst.

Die Corona-Toten sind hochpolitisch, weil es noch immer die Diskussion gibt, ob Menschen "mit" oder "an" Corona sterben oder und wir uns in einem permanenten Streit über die Verhältnismäßigkeit der verhängten Maßnahmen befinden. Erschwert diese Situation ein kollektives Trauern?

Ja, wenn man glaubt, dass Menschen eben immer sterben und wir es sozusagen mit "business as usual" zu tun haben, hat die Trauer keinen Raum. Unser gesellschaftlicher Umgang damit istimmer politisch. Wen betrauern wir, und wen nicht? Damit geben wir auch eine Wertung über die Relevanz von Leben ab. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler, die seit 9/11 zu dem Thema forscht, spricht hier von einer Hierarchie, die sich in der Verteilung öffentlicher Trauer bemerkbar macht.

Sehen Sie dieses Phänomen, wenn zum Beispiel über das hohe Durchschnittsalter oder Vorerkrankungen der Toten gesprochen wird?

Ja, sicher. Es geht immer um Wertungen, und darum, welches Leben überhaupt als ein betrauernswertes Leben gilt. Trauer ist wie ein Spiegel unserer Gesellschaft. Dabei spielen auch diskriminierende, rassistische, homophobe oder frauenfeindliche Aspekte eine Rolle. Schauen Sie sich die große AIDS-Welle in den USA an, getötete Frauen in Lateinamerika oder Geflüchtete, die im Mittelmeer ertrinken. Werden diese Menschen betrauert? Sie sind öffentlich unsichtbar. Auch bei "Black Lives Matter" geht es im Grunde doch darum, das Leben von Schwarzen als betrauernswerte Leben wertzuschätzen. Die Pandemie hat uns unsere Verletzlichkeit noch einmal deutlich vor Augen geführt. Erst wenn wir diese wahrnehmen, können wir sie auch anderen zugestehen. Hierin liegt das politische Potential der Trauer in Hinblick auf uns als soziale Wesen und Teile einer Gesellschaft.

Diese Hierarchie sieht man auch im öffentlichen Raum, wo manche Tote Denkmäler bekommen und andere nicht. Welche Rolle spielen solche Monumente?

Sie sind Projektionen, die etwas lebendig halten - an denen sich aber auch gesellschaftliche Diskussionen und Konflikte entzünden. Insofern spielen sie eine große Rolle, weil sie Teil des öffentlichen Lebens werden. In der Ausstellung in Hamburg war eine frühe Arbeit von Susan Philipsz über das Karl Liebknecht-Denkmal im Berliner Tiergarten zu sehen. Ein eigentlich unspektakulärer, poetischer 16-Millimeter-Film, der an einem Januarmorgen in einer einzigen Kameraeinstellung aufgenommen wurde. Darin sieht man Menschen, die mit ihren Hunden Gassi gehen, joggen, oder spazieren. Manche gehen einfach an dem Denkmal vorbei, andere bleiben stehen, lesen die Inschrift oder unterhalten sich darüber. Daran sieht man, dass Denkmäler Anstöße geben können, wenn man sie aufnehmen will.

Glauben Sie, dass es in Deutschland irgendwann Corona-Denkmäler geben wird?

Das kann ich mir gut vorstellen, dass es die geben wird, und dass darüber diskutiert werden wird, ob und wie so etwas sinnvoll sein kann und wer es machen soll. Solange man darüber im Gespräch bleibt und eine öffentliche Debatte stattfindet, finde ich die Idee gut. Es gibt viele künstlerisch gestaltete Denkmäler, die fantastisch sind. Insofern bin ich neugierig, was noch entstehen wird.