Es hätte doch so gut werden können. Es hätte eine Aktion mit Vorzeigecharakter werden können. Doch im Russischen gibt es ein Zitat, das die Situation bestmöglich zusammenfasst: "Ich meinte es gut, aber es wurde wie immer."
Am 5. Oktober launcht der deutsche Traditionsdiscounter Aldi Nord seine erste eigene Mode-Kollektion "Aldi Original" und präsentierte die Einzelteile vorab in einer Pop-up-Ausstellung im Warehouse Neuzeit Ost in der Modersohnstraße in Berlin. Inspiriert ist die Kollektion von der Mode "amerikanischer Hip-Hop-Kultur der 70er- und 80er-Jahre", wie Aldi Nord auf Monopol-Nachfrage verkündet. Weitere Einflüsse stammen von den "Street Styles des Ruhrgebiets aus dieser Zeit" – der Geburtsstätte von Aldi. Warum die Vorabpräsentation der Kollektion nicht an der besagten Geburtsstätte aufpoppt, ist dabei nur die erste von vielen Fragen, die der Versuch einer eigenen Aldi-Modelinie aufwirft. Aber fangen wir von vorne an ...
Marginalisierte Menschengruppen haben immer wieder durch Mode ein Bewusstsein für ihre eigene Wichtigkeit in der Gesellschaft finden können. Sei es durch Anmut und Grazie oder durch kraftvolle Selbstbehauptung: Mode dient den Menschen, die sie tragen. Auch im Hip-Hop hat Fashion eine bedeutende Rolle für Identifikation und Selbstkonstitution gespielt. Eine der prägendsten Modelinien, Rocawear, die aus der Kooperation mit dem Musiklabel Roc-a-Fella Records hervorgegangen ist, wurde beispielsweise von Hip-Hop-Legende Jay-Z gegründet. Ebenso reiht sich FUBU in eine Serie von Streetwear-Modelabeln ein, die als Zwischenergebnis einer Emanzipationsbewegung verstanden werden muss. Erst in den 90er-Jahren mussten diese Unternehmen von afroamerikanischen Communities gegründet werden, nachdem die dazugehörigen Stile durch die Hip-Hop-Kultur der 70er- und 80er-Jahre größere Aufmerksamkeit genossen. Denn vorher gehörten nur wenige Modelinien den afroamerikanischen Communities, die die Styles für die Öffentlichkeit prominent machten. Die Designerinnen Kianga Milele oder Farai Simoyi-Agbebe, die Künstlerinnen wie Sean Combs, Jay-Z, Beyoncé, Rihanna oder Nicki Minaj einkleiden, erzählen heutzutage davon, mit welchen Unsagbarkeiten diese Emanzipationskämpfe verbunden waren. Und immer noch sind.
Aber wie steht es nun um die "Aldi Originale"? Den Einzelteilen sieht man ihre proklamierte Verwandtschaft an: Sportjacken, Hoodies, Jogginghosen, Fischerhut und "Aldiletten" (in Anlehnung an Adiletten) gehören in das Sortiment. Eine klassenkämpferische Nähe zwischen den Arbeiter*innen des Ruhrgebiets und der amerikanischen Hip-Hop-Kultur kann man den Bewegungen zwar zugestehen, aber an wen richtet sich denn die aktuelle Modelinie? Laut Aldi sei "dieser Stil in die heutige Zeit transferiert und angepasst. Auf diese Weise ist eine moderne, hippe Kollektion entstanden, die Spaß macht und auf die Straßen moderner Großstädte wie Berlin passt." Und genau hier liegt das erste monumentale Problem dieser Kollektion.
Anstandslos appropriieren
Eine "moderne, hippe Kollektion, die auf die Straßen moderner Großstädte wie Berlin passt", wird den Emanzipationskämpfen der zugrundliegenden Kulturen in keiner Weise gerecht. Keine Frage: Appropriation und Zitate künstlerischer Werke oder kultureller Zusammenhänge gehören ebenso zu Kunst wie auch zu Mode. Daran gebunden ist jedoch immer die Frage: Warum? Welches Kennzeichen der Hip-Hop-Kultur der 80er-Jahre erfährt hier eine sinnvolle Neuauslegung? Wie wird der Bezug zur Arbeiter*innen-Kultur des Ruhrgebiets durch eine solche Mode-Kollektion aufgewertet oder (kritisch) reflektiert? Die Antwort: Gar nicht.
An dieser Stelle könnte man berechtigt intervenieren: Warum ausgerechnet auf dieser Kollektion rumreiten? Denselben Vorwurf zur Ignoranz gegenüber einer gesellschaftlichen Verantwortung könnte man doch genauso gut vielen anderen Modeschöpfern machen! Ja, stimmt. Dann machen wir das doch mal.
Was hier geschieht ist nämlich ein Symptom des Turbokapitalismus, in dem auch Mode als Referenzsystem auf seine ökonomische Verwertbarkeit ausgebeutet wird. Der versprochene Transfer in die heutige Zeit beschränkt sich bei Aldis Kollektion auf einen feschen Werbeclip, dessen optischer Stil irgendwo zwischen Vaporwave und Neon Noir angesiedelt ist und eine unbeholfene Zielgruppe in den Bann der Produktpalette ziehen soll. Dieselbe unbeholfene Zielgruppe, die vor einigen Jahren begann, auf Festivals, Raves und "auf den Straßen moderner Großstädte wie Berlin" die Uniformen der Arbeiter*innen als Mode zu adaptieren. Plötzlich liefen auf der Fusion, einem jährlich stattfindenden Techno-Festival mit einst linker, politischer Ausrichtung und mittlerweile mehr als 100.000 Gästen, Menschen in Ikea- und DHL-Shirts rum und hielten das für ziemlich selbstironisch.
Die Künstlerin Hito Steyerl hat in ihrem Projekt "Mission Accomplished: Belanciege" 2019 dieselben Mechanismen bei dem Fashion-Hype der letzten Jahre sichtbar gemacht: Balenciaga. Sowohl die Inszenierung von Balenciagas Mode auf den eigenen Kanälen sozialer Netzwerke als auch die konkreten Einzelteile bedienen sich einer Form von Appropriation, die in einem post-ironischen Digital-Zeitalter die Mode des Proletariats laufstegtauglich machen sollte. Leider waren und sind derart viele Käuferinnen und Käufer dieser Meta-Mode verfallen, dass sie nur noch reinen Selbstzweck erfüllt und nicht zur Demokratisierung von Haute Couture beiträgt. Dazu gehören genauso die DHL-Shirts von Vetements – die Modemarke, die durch Creative Director Demna Gvasalia direkt mit Balenciaga verbunden ist – wie auch die Balenciaga Ikea Bag "Arena Extra Large Shopper Tote" für damals 2.145 US-Dollar.
Durch die Herausgabe einer eigenen Kollektion, so könnte man glauben, beanspruche der Discounter seinen eigenen Platz in der Modewelt. Die zuvor instrumentalisierte Arbeitskleidung ließe sich in einem Akt der Re-Appropriation als Meta-Meta-Mode verwerten, käme er denn einer betroffenen, marginalisierten Gruppe zugute. Aber ist das der Fall? Die "super exklusiven" Einzelteile der "Aldi Original"-Kollektion werden zwar nicht zu absurden High-Fashion-Preisen verkauft, setzen aber eine Markentreue gegenüber dem Discounter voraus: Erhältlich sind die Modestücke durch den Besuch der Pop-Up-Ausstellung, per Verlosung auf dem markeneigenen Instagram-Account oder, mit etwas Glück und Schnelligkeit, bei "einem Einkauf im Wert von 15 Euro" in einem der 2.300 Aldi-Nord-Märkte. Soweit kein direkter Erlös aus der Kampagne nachvollziehbar ist, kann natürlich niemand darauf bestehen, dass der Gewinn beispielsweise in die Instandhaltung der Industriekultur und Förderung des Strukturwandels im Ruhrgebiet investiert wird. Obschon Aldi auch gegenüber Monopol betont, dass dort die Geburtsstätte der Einzelhandelskette liegt.
Noch wirkungsvoller wäre das Geld zur Stärkung von Gewerkschaften oder besseren Bezahlung derjenigen Menschen, die mehr oder weniger unfreiwillig Kleidung mit Aldi-Aufdruck tragen: das eigene Personal. Anstelle von Applaus wäre das mal eine gegenwartsbewusste Maßnahme, um die "systemrelevanten Berufsgruppen" angemessen zu würdigen, anstatt hippe Jugendliche den Dresscode persiflieren zu lassen. Mit der Aktion werden lediglich neue Zielgruppen angelockt, die ihr Geld für die üblichen Aldi-Produkte dalassen sollen.
Nur Nachmachen reicht nicht
Zeitgleich bringt auch Discounter-Konkurrent Lidl seine eigene Streetwear heraus und bedient sich dabei derselben Auswahl und Vermarktungsstrategien: Sneaker, Socken, Shirts und Schlappen gehören zum neuen Sortiment der Kollektion, die im Herbst vergangenen Jahres bereits mit der Verlosung von Schuhen in Lidl-Farben (Blau, Gelb, Rot) in Aussicht gestellt wurde. Wer hier immer noch denken könnte, damit würde die Demokratisierung von Mode gefördert werden, muss sich vor Augen führen, dass die exklusiven Einzelteile bereits nach kurzer Zeit für mehrere Hundert Euro im Netz gehandelt wurden. Auch wenn sich Aldis Rivale zumindest zurückhaltender anstellt in Bezug auf kulturelle Appropriation und explizite Zitate, profitiert trotzdem nur einer an diesem Marketing: Lidl selbst.
Ein jüngster Geschmacksverirrter des laufenden Jahres war auch Lars Eidinger, der mit seiner 555 Euro teuren Aldi-Tüte aus Leder auf den Zug der ironisch Distanzierten aufsprang und dabei ganz vergaß, dass Kunst anders als Schauspielerei nicht allein von Imitation leben kann.
Diese Form der kapitalistischen Modeausbeutung gleicht dem Phänomen des Armutstourismus, bei dem sich privilegierte Gruppen versuchshalber an die Orte oder eben in die Outfits strukturell benachteiligter Milieus begeben und soziale Ungleichheit als temporäres Experiment vermarkten. Nun könnten "Aldi Original"-Fans widersprechen: "Gute Mode provoziert! Gute Mode polarisiert und ist trotzdem visuell ansprechend!" Denn das muss man der Kollektion immerhin lassen: Die Designs, auch wenn sie Trends der jüngst vergangenen Jahre wiederverwerten, sehen ja ganz gut aus. Was nicht zuletzt an dem mittlerweile ikonischen Aldi-Logo liegt, das bekanntermaßen von dem bildenden Künstler Günter Fruhtrunk gestaltet wurde. Dieses Logo findet sich in verschiedenen Variationen in der Kollektion "Aldi Original" wieder. Und wie lief die Zusammenarbeit mit der Walter Storms Galerie, die federführend den Nachlass des Künstlers verwaltet? "Die Kollektion ist unabhängig davon entstanden. Wir freuen uns aber, dass das legendäre Design die Marke Aldi bis heute auf unverwechselbare Weise prägt", antwortete Aldi Nord auf Nachfrage.
Ohne Rücksicht auf Verluste
Gegenüber Monopol reagierte auch die Walter Storms Galerie kenntlich überrascht: "Eine Anfrage oder eine kurze Information seitens Aldi Nord im Vorfeld wäre sicherlich wünschenswert gewesen und hätte auch den Gepflogenheiten, wie wir sie als Kunstliebhaber und im Kunsthandel pflegen, entsprochen." Urheberrechtlich hat man sich hoffentlich bei der Planung der markeneigenen Marketing-Strategien abgesichert: "Ja, die Formensprache von Günter Fruhtrunk ist grandios, zeitlos, immer hip und mega aktuell. Das spüren wir auch, wenn es um seine Kunstwerke geht [...]. Rechtlich gehe ich davon aus, dass Aldi Nord die Verwertungsrechte mit der VG-Bildkunst geklärt hat. Das verwendete Motiv für die Tüte basiert auf einem Bild, das im Werkverzeichnis erfasst ist", erklärt Walter Storms.
Diese Verzweigung fragwürdiger Meta-Meta-Mode und rücksichtsloser (Re-)Appropriation ist Grund genug, die Discounter-Modelinie zumindest mal kritisch zu hinterfragen, bevor man unbedarft Bauchtasche umschnallt und Fischerhut aufsetzt. Oder um ein letztes, berühmtes Zitat zu verwerten: Wer eine Aldi-Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.