Für HA Schult waren sie Schreihälse. Fünfzig Jahre lang sei man von ihnen angebrüllt worden: "Lies mich! Ich vermittele dir Wahrheiten oder Unwahrheiten gleichermaßen. Du darfst entscheiden, was stimmt. Aber lesen musst du selber." Jetzt sind sie verstummt. Wirklich was gesagt, haben die "stummer Verkäufer" natürlich nie. Aber die rot-orangen Metallkästen präsentierten auf deutschen Straßen gut lesbar die lauten Schlagzeilen der Boulevardblätter.
Die Stadt Köln habe entschieden, diese Kisten abzuschaffen, sagt HA Schult. Weil sie das Stadtbild verunstalten würden. Kurzerhand hat er sich 150 "stumme Verkäufer" gesichert und sie – ähnlich seiner trash people – in Reih und Glied auf dem Kölner Börsenplatz aufgestellt.
"Verlust bringt Gewinn" hat er diese "box people" getauft. Denn hier geht etwas verloren. Die ausrangierten Kästen werden zu einem Memorial für die Kulturpraxis Zeitunglesen. Und dafür, dass das immer weniger gemacht wird, zumindest in Printform. Wer heute informiert sein will, wischt und scrollt über glatte Flächen statt raschelnd dünnes Papier zu falten. "Und so gesehen ist dies auch ein Tableau des Vergessens", sagt HA Schult.
Der Medienumbruch trifft HA Schult wie alle anderen, aber vielleicht auch etwas mehr. Schließlich verdankt er bedrucktem Papier einen seiner größten Erfolge: 1976 überschwemmte er als ungebetener Gast der Biennale den venezianischen Markusplatz mit Zeitungen vom Vortag. 15 Tonnen Altpapier auf 15 000 Quadratmetern. Das Medienecho war gewaltig. Die Fotos von durch die Papierflut watenden Menschen sind bis heute Ikonen.
Auf dem Kölner Börsenplatz ist das Medienecho überschaubarer. Natürlich berichtet die "Bild" – schließlich sind es ihre ehemaligen schweigsamen Mitarbeiter, die HA Schult hier umnutzt. Doch wie es vor 44 Jahren laut "Spiegel" ein Carabiniere beim Anblick des Müllkunstwerks tat, so könnte auch heute ein Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes sagen: "Hier historische Zeit, da moderne Zeit, si, si." Denn der Abbau der Kästen erfolgt auch, weil die Zeitungen sich selbst längst von Blättern in Pdf-Dateien oder Websites verwandeln.
Und so medien-nostalgisch man mit Blick auf die ausrangierten Zeitungskisten werden möchte, es gibt Hoffnung, auch für den Müllmann der Gegenwartskunst: Im Digitalen warten abertausend Terrabyte ungesehener Urlaubsfotos, durch nie durchgeführte Updates verschlissene Rechenleistung und überscrollte Online-Artikel auf ihn. Eine Medienmüllhalde wie geschaffen für HA Schult, ungekannte Chancen à la "Verlust bringt Gewinn". Ein Werk aus Datenmüll könnte dann den Titel "Tableau des Erinnerns" tragen. Denn im Gegensatz zu uns vergisst das Internet ja nicht. Auch nicht die Nachrichten von gestern.