Kunst und Energie

"Die Freiheit nutzen"

Justin Hoffmann, Direktor des Kunstvereins Wolfsburg, hat sich als Jahresthema die Energie gewählt - und zeigt zur Phaenomenale solarbetriebene Kunst

Justin Hoffmann, die digitalen Entwicklungen überholen das, was wir an Reflexion leisten können, zunehmend. Kann man da mit Kunst gegensteuern?

Nach Pierre Bourdieu gehört es zum Charakter der Kunst, gesellschaftliche Defizite aufzugreifen und zu behandeln. Die Digitalisierung ist eine Entwicklung, die in ihrer Dimension schwer zu begreifen und zu prognostizieren ist. Die Kunst kann jedoch mit sinnlichen und kog­nitiven Mitteln zu einem besseren Verständnis beitragen. Im Programm des Kunstvereins Wolfsburg spielt die Auseinandersetzung mit den neuen technologischen Phänomenen, auch auf visueller Ebene, deshalb eine wichtige Rolle.

Der Kunstverein Wolfsburg zeigt passend zur Phaenomenale die Schau "Erneuerbare Medien".  Wie sind Sie vorgegangen?

Das Thema Energie ist relevant, der Kunstverein Wolfsburg beschäftigt sich im Jahr 2020 in vier Ausstellungen damit. Es waren künstlerische Arbeiten, die mich zu Ausstellungsthemen wie "Erneuerbare Medien" und "Too much power" anregten. Der Münchner Künstler Emanuel Mooner schickte mir im Sommer 2019 eine SMS, dass er gerade seine erste solarenergiebetriebene Kunstausstellung eröffnet habe. Das hat mich dazu ermutigt, eine Ausstellung zu konzipieren, in der nur künstlerische Arbeiten gezeigt werden, die sich mit regenerativen Energien beschäftigen. In der Meisterschülerinnen-und-Meisterschüler-Ausstellung der HBK Braunschweig im gleichen Jahr sah ich eine Videoinstallation der israelischen Künstlerin Chen Efraty, die in dieser Arbeit beschreibt, warum sie keine Kraft mehr hat, Kunst zu machen. Diese und andere Werke, die mir begegneten, motivierten mich, den Energiehaushalt des Individuums in einer Ausstellung mit dem Titel "Too much power (too little power)" zu thematisieren.

Der Begriff "Energie" reicht von der Frage nach Ressourcen bis hin ins Spirituelle. Wie bleibt man da präzise?

Hätte der Begriff der Energie nicht verschiedene Bedeutungsebenen, wäre er für ein Jahresthema eines Kunstvereins wenig tauglich. Die Präzisierung erfolgt dadurch, dass jede der vier Ausstellungen im Jahr 2020 eine bestimmte Facette dieses Begriffs aufgreift und so als inhaltlicher Rahmen für verschiedene künstlerische Arbeiten dienen kann. Wir ergänzen das zusätzlich durch Veranstaltungen mit diskursiver Ebene. Zum Beispiel in unserem Vermittlungsprojekt namens "Lokale Liaison", wo wir Gespräche mit Jugendlichen führen.

Energie ist ein Schlüsselbegriff für die Zukunft der Menschheit. Überfordert sich die Kunst nicht mit diesen ganz großen Fragen?

Gerade Künstlerinnen und Künstler haben die Freiheit, sich mit großen, aber auch kleinen Themen zu beschäftigen, ohne alles bis zum Letzten begründen zu müssen. Diese Freiheit sollten sie nutzen und sich nicht mit formalen Experimenten im Kreis drehen. Künstler wie Joseph Beuys oder Gustav Metzger, die grundlegende soziale Veränderungen anstrebten, sind mir lieber als angepasste, ängstliche Positionen. Man sollte auch den Kunstrezipienten in dieser Frage nicht unterfordern.