Nur eine These: Wer häufig ins Berghain zum Feiern ging, kam vielleicht auch besser durch den Lockdown. Schließlich bot der berühmte Berliner Technoklub vor Corona kurze Ausstiege aus dem Alltag. Hier dehnte sich – zumindest dem Klischee nach – die Zeit, und wer nach Stunden und Tagen taub und wirr die "Kathedrale der Verstörung" (Rainald Goetz) verließ, musste sich erst einmal orientieren: Wo bin ich und worum ging es nochmal?
Also ganz ähnlich wie nach dem Lockdown. Nur dass die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus Folgen haben, die Existenzen gefährden – zum Beispiel die des Berghain selbst. Nach fast einem halben Jahr öffnet der Klub jetzt wieder, allerdings als Ausstellungsort. Das Berliner Sammlerpaar Karen und Christian Boros hat mit seiner Boros Foundation auf Anfrage des Berghains Werke von 117 in Berlin lebenden Künstler*innen in das ehemalige Heizkraftwerk gebracht. Die Schau "Studio Berlin", die je zur Hälfte von der Foundation und vom Senat finanziert wird, soll so lange laufen, bis der Klubbetrieb wieder aufgenommen werden kann.
Am Mittwoch öffnet die Ausstellung, die Ticket-Nachfrage soll riesig sein. Das Berghain hat eben seine Strahlkraft nach 16 Jahren nicht verloren. "Dieser Ort steht weltweit für Freiheit", sagt Christian Boros, Kultursenator Klaus Lederer sieht hier einen Freiraum für "Nähe und Kontrollverlust". Rausch, homosexuelle Körperlichkeit und Gelegenheitssex prägten den Klub, und auch wenn die Besucher*innen in schwarzer Kleidung, Sport-BHs und klobigen Schuhen irgendwann seltsam uniformiert aussahen, ist viel Wahrheit an diesem Mythos von Freiheit und Exzess, der über die Jahre schwerer und schwerer wog und viele Feiernde mit diesem bedeutsamen ernsten Gesichtsausdruck ausstattete ("Wir arbeiten hier an der Verteidigung von etwas Großem!"). Antithese zur Ausgangsthese: Wer regelmäßig ins Berghain zum Feiern ging, kam schlechter durch den von Distanz und Kontrolle geprägten Lockdown.
Statt Feuer jetzt also Asche?
Die Erinnerung an Nähe und Kontrollverlust macht den Besuch der Ausstellung zu einer melancholischen Angelegenheit. Statt Feuer jetzt also Asche, die sich auf diese aufgeladene quasi-sakrale Architektur legt? Oder kann die Kunst die Intensität von Techno und Tanzen entwickeln?
Wie ein Post-it an der Stirn eines Kandidaten in dem Spiel "Wer bin ich?" hängt Rikrit Tiravanijas Banner mit der Aufschrift "MORGEN IST DIE FRAGE" an der Fassade. Wie zur Antwort steht darunter, neben dem Eingang, Dirk Bells Monumentalskulptur "LOVE".
Die Rituale beim Betreten sind zunächst die gleichen geblieben wie beim Ausgehen: anstehen, ein Blick der furchteinflößenden aber lieben Türsteher*innen in die Taschen, Abkleben der Handykameras, denn Fotos waren weder im Klub erlaubt noch sind sie jetzt gestattet. Auch Installationsansichten für die Presse gibt es keine.
Von Dienstag bis Freitag starten alle 15 Minuten Führungen mit höchstens 16 Personen, am Wochenende dürfen Besucher*innen sich frei im Haus bewegen. Der Eintritt kostet mit 18 Euro (ohne Führung) und 20 Euro (mit Führung) so viel wie eine Klubnacht. Die Führungen werden vom Vermittlungsteam der Boros Foundation und von Berghain-Mitarbeiter*innen durchgeführt.
"Fuck your Loneliness"
Es beginnt mit Bildern des Malers Norbert Bisky, die im Garderobenraum permant installiert sind. Endlich kann man im Nebenraum die Arbeit von Julian Göthe sehen, die kurz vor dem Lockdown an der großen Treppe zur Haupthalle aufgebaut wurde: eine wuchtige, aufgesockelte Skulptur, die an eine gewaltige Lautsprecherbox erinnert. Darüber schwebt eine Boje von Julius von Bismarck durch die Luft wie auf den Wellen eines Meeres (tatsächlich bewegt sie sich nach Livedaten einer Boje auf dem Atlantik). Das Wabern, der Rhythmus, die sanfte Bewegung, die den Anfang eines Berghain-Besuchs einmal prägten, finden sich in diesem Entree gut wieder.
Die meisten Fotografien, Malereien, Videos, Soundarbeiten und Installationen an den Wänden, in den Nischen, auf dem Boden, auf den Fenstern der 3500 Quadratmeter umfassenden Räume sehen an diesem Ort – ohne eigene Ausstellungsarchitektur und oft im Putzlicht – ohnehin fantastisch aus. Selbst auf den Dancefloors, den Leerstellen, in denen der Verlust am meisten wehtut. Das Künstler- und Liebespaar Petrit Halilaj und Alvaro Urbano haben auf der Tanzfläche der Panoramabar, wo sie sich der Legende nach kennengelernt haben, eine riesige Blüte aus Stahl, Leinwand und Farbe aufgehängt, die gehörlose Künstlerin Christine Sun Kim, eine regelmäßige Besucherin des Berghains, auf dem Boden eine Art Bewegungsprofil aufgemalt. Auf dem Berghain-Dancefloor laufen Aufnahmen von Emeka Ogboh, die der Künstler während des Lockdowns in einem Rotlichtviertel in Lagos gemacht hat. Das Weltumspannende der Musik, der Kunst und der Lust, das Weltumspannende einer Pandemie. Besser als Simon Fujiwara in einer grandiosen Installation in einer Barnische bringt das hier niemand auf den Punkt: Dort stehen Künstler hinter der Theke, die wie Fujiwara an Syphilis litten: Lautrec, Van Gogh, Goya, Gauguin.
Auch wenn es in dieser Ausstellung eigentlich um das titelgebende Studio als Produktionsstätte der Kunst gehen sollte, ist der Lockdown in vielen Arbeiten – die meisten Kunstwerke sind tatsächlich in den letzten Monaten entstanden – das bestimmende Thema. Peter Welz hat ein Graffito mit der Botschaft "Fuck your Loneliness" in Berlin fotografiert und den Print auf Leinwand aufgezogen, die nun in der Panoramabar hängt. Auch die "Quarantine Flowers"-Polaroids von Ketuta Alexi-Meskhishvili entstanden während der ersten Wochen der Pandemie. Cemile Sahin dokumentiert in großformatigen Drucken den Stillstand auf einem Parkplatz. In vielen Werken ist dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst zu spüren, was auf anregende Weise den ultra-sozialen Raum Berghain kontrastiert. Ohne Techno, ohne Eröffnungen, ohne Ausstellungen bleiben das Atelier und die Produktion von Kunst.
Uns bleibt immer noch Berlin
Und wir haben noch Berlin! Auch diese Selbstvergewisserung in einer gerade für Kreative schwierigen Zeit strahlt diese Ausstellung aus. Ursprünglich sollten hier vor allem Künstler*innen aus der Boros-Sammlung gezeigt werden, dann aber, so erzählen die Organisator*innen Karen Boros, Christian Boros und Juliet Kothe, hätten die Künstler*innen immer auch noch Kolleg*innen an Bord geholt – so dass die Zahl der Teilnehmenden immer weiter wuchs. Es beeindruckt, wie viele verschiedene Kunstszenen hier zusammenkommen: von Berghain-Veteranen wie Marc Brandenburg und Wolfgang Tillmans (wo ist eigentlich Piotr Nathan?) über Racker wie John Bock, Olafur Eliasson oder Thomas Zipp, die das Berlin-Bild der Nullerjahre geprägt haben, und den Post-Internet-Spuk der Zehnerjahre bis zur diversen Gegenwart.
Das war Berlin, das ist Berlin, das wird Berlin. In den vergangenen Monaten wurde viel um die Zukunft der Kunststadt gestritten, absurderweise nicht wegen der Coronamaßnahmen und deren Auswirkungen auf die Kultur, sondern wegen der Sammler*innen, die der Stadt den Rücken kehren oder damit drohen. Im Berghain ist noch einmal alles zu sehen, was das Nach-Wende-Berlin groß gemacht hat: die Kunst, das Nachtleben und das Prinzip Zwischennutzung.
Dass diese Ausstellung nicht auseinanderfällt wie vor neun Jahren das prestigebeladene Ausstellungsprojekt "Based in Berlin" (woran "Studio Berlin" konzeptionell erinnert), liegt an der Aura des Ortes und an der gemeinsamen Erfahrung einer Pandemie. Die Berghain-Ausstellung wird garantiert ein Erfolg und wir werden noch lange von ihr sprechen. Synthese: Egal, wie du den Lockdown erlebt hast, im Berghain findest du Trost.