Von Balenciaga kopiert

"Nicht euer Moodboard"

Tra My Nguyens Skulpturen erzählen von der weiblichen Scooter-Kultur Vietnams. Bekannt wurden sie, weil sie mutmaßlich von Balenciaga kopiert wurden - gesehen werden sollten sie so oder so

Als die Künstlerin und Absolventin der Berliner Universität der Künste (UdK) Tra My Nguyen am 21. Juli den damals neuesten Instagram-Post von Balenciaga sah, fiel sie wahrscheinlich aus allen Wolken. Der Post zeigt ein Motorrad, bedeckt von einer Assemblage bunter Kleidungsstücke. Optisch passt er in den edgy Feed der Modemarke, der von Post-Internet-Ästhetik und popkulturellen Referenzen geprägt ist. Theoretisch ein smarter Ansatz, um Luxusmode für die Gen-Y-Zielgruppe zu vermarkten. Das Problem ist, dass das Konzept des Motorrad-Bildes offenbar nicht allein aus den kreativen Köpfen des Balenciaga-Teams stammt, sondern von Tra My Ngyuen.

Für ihr Master-Projekt an der Berliner UdK 2019 beschäftigte sie sich mit der außergewöhnlichen vietnamesischen Motorrad-Kultur. Die weiblichen Fahrerinnen, die auch als "Street Ninja" bezeichnet werden, tragen bunt bedruckte UV-Schutzkleidung, um sich vor extremem Sonnenlicht und Smog zu schützen.


In ihren Arbeiten, die Nguyen als "tragbare Skulpturen" beschreibt, drapiert sie die farbenprächtige Kleidung über Motorräder. Auch ihre eigene Familiengeschichte sei in den Skulpturen verankert, erklärt sie, so habe ihre vietnamesische Mutter damals ihr Motorrad verkauft, um nach Deutschland zu emigrieren. Mit dem Projekt wolle sie "eine Strategie vorschlagen, um die weibliche Fahrerin als Protagonistin neu vorzustellen und ihren diskriminierenden Erfahrungen entgegenzuwirken". Die Motorrad-Skulpturen sind ein Teil ihrer Abschlussarbeit "Using one’s feet has become an option of last resort", zu dem auch eine Videoarbeit und mehrere Modedesigns gehören.

"Keine zufällige modische Ästhetik, von der ihr profitieren könnt"

Der Anblick des Balenciaga-Posts habe die Künstlerin sprachlos gemacht. In einem langen Instagram-Beitrag macht sie ihrer Wut Luft: "Balenciaga hat wieder einmal bewiesen, dass es die Ideen von POC (people of color) -Künstlern stiehlt, sich aneignet und von ihnen profitiert ... Ich fühle mich verraten und verletzt, da es ein Teil meiner Kultur ist, es ist ein künstlerischer Prozess und nicht eine zufällige modische Ästhetik, von der ihr profitieren könnt ... Ich bin nicht euer Moodboard!"

Die Annahme, dass Balenciaga sich die Idee tatsächlich von Nguyen angeeignet hat, hat eine Vorgeschichte: Wie sie auf Instagram beschreibt, kam im vorigen Jahr eine Recruiterin des Labels in die UdK, um sich die Master-Projekte der Studenten anzuschauen. Zwei Mal habe sie danach sogar explizit Nguyens Portfolio angefragt, angeblich für ein potenzielles Praktikum.

Als kurze Zeit später der Instagram-Account @diet_prada – bekannt dafür, die Fehltritte von Fashion Brands sichtbar zu machen – die Geschichte aufgriff, wurde Balenciagas Post von einer Flut wütender Kommentare überrollt. Über 22,9 Tausend Kommentare hat das Bild heute, weit mehr als alle anderen Posts. Doch selbst nach dem Online-Shitstorm hat der Luxusriese das vermeintlich kopierte Bild nicht von Instagram gelöscht. Stattdessen wurden bestimmte Kommentare, darunter auch die von Nguyen selbst, entfernt. Persönlich kontaktiert wurde sie von Balenciaga nicht.

 

Vier Tage nachdem das Posting der UdK-Absolventin Fahrt aufnahm, antwortete Balenciaga ganz casual per Insta-Story. "Das Bild, das wir am 21. Juli veröffentlicht haben, basiert nicht auf der Arbeit eines Künstlers", heißt es dort. Stattdessen sei es davon inspiriert, wie manche Straßenverkäufer ihre Ware auf Autos präsentieren. Sowieso würden die Recruitment- und Social Media-Abteilungen des Unternehmens getrennt voneinander arbeiten und keine Informationen bezüglich der Talentanwerbung teilen. Uneinfühlsam und unaufrichtig nennt Nguyen diese Reaktion; die vermeintlich harmlose Erklärung könne sie nicht glauben. "Dieses Verhalten ist eine toxische manipulative Unternehmensstrategie, um das Opfer dieser Situation zum Schweigen zu bringen. Anstatt sich bei mir zu entschuldigen und den gestohlenen Konzept-Feed zu löschen, habt ihr euch für Verleugnung entschieden" Trotz des massiven Backlashs scheint es derzeit nicht so, als habe Balenciaga vor, weiter auf die Geschichte einzugehen.

Unabhängig davon, in welche Richtung sich die Situation von jetzt an entwickelt, hat Tra My Nguyen eine wichtige Diskussion angestoßen, zur kulturellen Aneignung in der Kunst auf der einen Seite, und zur Ausbeutung des Ideenguts aufstrebender Künstler durch Unternehmen und bekanntere Personen. Ein Einzelfall ist dieser Fall nicht, wie viele weitere Beispiele zeigen. Millionenschwere Konzerne übernehmen Konzepte von Nachwuchstalenten, anstatt diese zu fördern und so die Authentizität des eigenen Feeds zu steigern. Vermutlich, weil es billiger ist, obwohl es an finanziellen Mitteln eigentlich nicht fehlt.

Tra My Nguyen hat durch die Aufmerksamkeit auf Instagram und die Berichterstattung internationaler Medien immerhin ihre eigene Plattform stark vergrößert. So haben viel mehr Menschen ihre komplexe skulpturale Interpretation der "Street Ninja" gesehen.