Denkt man an Marcel Duchamp und die Frauen, dann denkt man wahrscheinlich zu allererst an eine der rührendsten Episoden seiner Biografie. Es ist das Jahr 1912, der 25-jährige Duchamp verbringt gerade ein paar für ihn und seine künstlerische Entwicklung bedeutende Sommermonate in München. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet, arbeitet viel, besucht die Alte Pinakothek und das Deutsche Museum. Es müsste eine gute Zeit sein, ein Moment der Freiheit. Weg von Paris, weg von seinen Brüdern.
Doch den jungen Mann plagt etwas: Er ist verliebt. In Gabrièle, die Frau seines Freundes Francis Picabia. Er hat ihr geschrieben, er will sie sehen. Sie verbringt einige Tage in ihrem Haus im Jura, meint aber, ihre Wege könnten sich kreuzen, ganz kurz, in Étival, wo sie umsteigt in ihren Zug nach Paris. Man kann davon ausgehen, dass Gabrièle den jungen Marcel nicht erwartet, als sie an diesem Augusttag den Bahnhof erreicht. Und doch ist er da. "Es war eine Art Verrücktheit, ein Wahnsinn, von München ins Jura zu reisen, um ein paar Nachtstunden mit mir zu verbringen", schreibt sie.
Wie die Begegnung zwischen Gabrièle Buffet-Picabia und Duchamp in Étival von der Duchamp-Forschung psychologisch ausgeleuchtet wurde, kann man jetzt noch einmal in dem Band "Marcel Duchamp und die Frauen. Freundschaft, Kooperation, Netzwerk" nachlesen: Kurz darauf arbeitete Duchamp an Skizzen, die für sein berühmtes Werk "La Mariée mise à nu par ses célibataires, même" (auch "Das große Glas" genannt, 1915–1923) von wichtiger Bedeutung sind.
Freundschaft in der Entwicklung der Avantgarde
Diese bekannte, aber immer wieder erzählenswerte Geschichte ist eine von mehreren Dutzenden in der mehr als 500 Seiten umfassenden Studie zu den Frauen im Leben des Marcel Duchamp. Initiiert wurde der Band von Renate Wiehager, der Sammlungsleiterin der Daimler Art Collection, und der Duchamp-Spezialistin Katharina Neuburger, die damit zeigen wollen, welch wichtige Rolle die von der Kunstgeschichte notorisch übersehenen Frauen in den damaligen künstlerischen Netzwerken spielten. Man kann sagen: Es ist geglückt. Das Buch stellt den gesamten weiblichen Freundeskreis Duchamps vor, erklärt anhand von Biografien, Bildern und Textausschnitten, was die Frauen sich bedeutet, wie sie sich beeinflusst, geholfen und inspiriert, vielleicht auch bestohlen haben.
Man lernt hier fast alle interessanten, extravaganten und bedeutenden Frauen dieser Zeit kennen - oder zumindest besser kennen als bisher: von Suzanne, Marcels Schwester, über Gabrièle, zu Gertrude Stein, Djuna Barnes, Mina Loy, Isadora Duncan, Louise Arensberg, Beatrice Wood bis hin zu den Stettheimer-Schwestern, für deren Puppenhaus Duchamp eine Miniatur-Version seines "Nu descendant l’escalier no. 2" anfertigt.
Es kommt auch die punkige Elsa von Freytag-Loringhoven vor, von der Duchamp hartnäckigen Gerüchten zufolge die Idee des "Pissoir" als Readymade gestohlen haben soll (das wird hier allerdings stark angezweifelt), Peggy Guggenheim, natürlich, die Marcel 1943 für die Ausstellung "Exhibition by 31 Women" beriet, und, wie sollte es anders sein, sein Alter Ego Rrose Sélavy. Es ist nicht nur ein Buch über Marcel Duchamp geworden, sondern auch eins über die Frauen des 20. Jahrhunderts oder auch schlicht die Rolle der Freundschaft in der Entwicklung der Avantgarde.