Kunst des Spaziergangs

Los geht's

Carl Spitzweg "Der Sonntagsspaziergang", 1841
Foto: gemeinfrei

Carl Spitzweg "Der Sonntagsspaziergang", 1841

Während des Corona-Lockdowns haben viele Menschen das Spazierengehen neu für sich entdeckt. Gut so. Denn das Gehen prägt, wie wir die Welt sehen und gestalten

Der Spaziergang wurde in der Corona-Hochphase für viele ein enger Verbündeter. Er war die einzige Gelegenheit, legal Freunde zu treffen, löste Bar- und Cafè-Besuche ab, er ersetzte die alltäglichen Wege, die monatelang wegfielen. Gut, denn spazieren gehen ist gesund. Ein Standard-Arzt-Rat ist Bewegung, den Kreislauf in Schwung bringen. Und doch wird das ziellose Gehen gern als eine exemplarische Rentnerbeschäftigung abgetan. Alte Menschen schlendern, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, durch den nächstgelegenen Stadtpark, ohne klares Ziel. Wie Marmelade kochen und Sticken während des Lockdowns erlebte aber auch das Gehen ein feines, nostalgisches Comeback. Die Zeit war ja da, sowie der Wunsch nach einer simplen, erdenden Betätigung und so machten sich alle auf die Suche nach der schönsten Route rund um ihr Zuhause.

Eine Familie in Michigan nutzte das vermehrte Spazieren ihrer Nachbarschaft als Entertainment to go. Sie markierte das Stück Gehweg vor ihrem Haus als "Silly Walk-Zone". Die Idee ist angelehnt an den Sketch "The Ministry of Silly Walks", der innerhalb der britischen Comedy-Show "Monty Pythons Flying Circus" zu Beginn der 70er-Jahre ausgestrahlt wurde. Die Familie filmte die Vorbeikommenden bei den wilden Walk-Performances an ihrem Haus entlang. 54,5 Tausend Instagram-Followern verfolgen die spacigen Gehvarianten auf @yorkshire.silly.walks.


Der Spaziergang liegt irgendwo zwischen Entspannung und Nutzen, auch abhängig vom Spaziergänger selbst. Beim Gehen in Deutschland will vielleicht, trotz angestrebten Treibenlassens, eine gewisse Schrittzahl erreicht werden, in einer bestimmten Geschwindigkeit, möglicherweise. In Italien wird Gehen niemals mit Hetzen verwechselt, an einem Sonntag streift man durch die historischen Zentren der Stadt, in einer meditativen Ruhe, die den hiesigen Innenstädten ferner nicht sein könnte. Aber es eint uns, das stete Gehen, verträumt oder ambitioniert, stellt es doch eine Beschäftigung dar, der fast jeder nach gehen kann.

"Jospeh Beuys sagte: Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder verrichtet eine kreative Arbeit, die Möglichkeit dazu ist da. Beim Spazieren gehen ist das auch so, das kann fast jeder, solange er Füße und Beine hat," sagt Martin Schmitz - Autor, Verleger und Spaziergangswissenschaftler, der an der Universität Kassel unterrichtet. In der vom Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt gegründeten Spaziergangswissenschaft (die auf der Documenta 14 eine bedeutende Rolle spielete) wird die Mobilität der Menschen, ihre Wahrnehmung und die Rückkopplung daraus auf das Planen und das Bauen, auf das Gestalten untersucht. Wie hat sich das Spazieren in Corona-Monaten also aus der Sicht eines Spezialisten verändert?

"Die Wege, die jetzt gegangen werden, sind wahrscheinlich für viele Menschen andere Wege", sagt Schmitz. "Sie fahren nicht mehr nur jeden Morgen von der Tiefgarage zur Arbeit. Sie beginnen, ums Haus herum zu gehen, und werden praktisch bei jeder Runde etwas Neues finden. Wenn man das systematisch und bewusst macht, können Dinge entdeckt werden, die man vorher nie gesehen hat."

Geleitet von Milliarden von Einflüssen

Unser Wahrnehmen beim Spazierengehen beruht laut Schmitz auf dem kinematographischen Effekt. Da nicht der ganze Gang wiedergegeben werden kann, werden nur Sequenzen, einzelne Szenen gespeichert, die wir uns gemerkt haben und als wichtig erachten. Dabei werden wir geleitet von den Milliarden von Einflüssen, die jeden Tag auf uns einwirken und dem, was wir gelernt haben zu sehen. Während Kinder eine Cola-Dose am Wegesrand als wertvollsten Fund des Tages verbuchen, gehen Erwachsene durch Kreuzberg und stellen fest: "Das ist ja richtig Berlin hier, sieht voll aus wie Berlin", erklärt Schmitz. "Und das sieht man nicht an einem einzelnen Haus oder Grashalm, sondern diese Information bringen wir schon mit. Wir lernen das im Laufe des Erwachsenwerdens. Man erfährt durch Bilder, Bücher, Filme, wie etwas auszusehen hat. Neben der fast grenzenlosen, uns offen stehenden Mobilität, die uns ganz andere Lebensräume als unsere eigenen entdecken lässt, leben wir auch in einer Welt, mit einer noch nie da gewesenen Informationsflut."

Diese verleite dazu, nicht mehr richtig hinzuschauen, sondern nur noch den Vorstellungen zu folgen, die uns beispielsweise durch Werbung eingeredet werde. Wie hat eine schöne, idyllische Landschaft auszusehen? Wir glauben es zu wissen, der italienische Reiseführer hat es uns gezeigt. Und wenn wir in der Toskana ankommen, erwarten wir eine von Mittelmeerzypressen gesäumte Hügellandschaft im orangeroten Sonnenuntergang. "Promenadologische Kontexte" nennt Schmitz dieses Phänomen.

Google Maps fällt die Entscheidungen

Wir trauen unseren Augen kaum. Bilder verändern die eigenen Intuition, wir verlassen uns mehr auf Google Maps als auf das, was vor uns liegt. Die Navigations-App entscheidet, welches die schnellste Route ist und ob es bestimmt Bauwerke und Aussichtspunkte gibt, oder eben nicht. Der stets bereite Guide verändert signifikant, wie wir uns durch die Welt bewegen, und das tun wir ja viel und gern. Doch jetzt gerade müssen wir auf die einfachste Form dessen zurück greifen, und um den Block gehen. "Das macht es spannend, denn die Menschen kennen sich vermutlich auf Mallorca besser aus, als vor der eigenen Haustür," so der Promenadologe.

Raus, an die frische Luft gehen. Den Wunsch nach unberührter Natur und Landluft hat vor allem die Verschmutzung der Großstädte durch die Industrialisierung vorangetrieben, erläutert die amerikanische Essayistin Rebecca Solnit in ihrem Buch "Wanderlust - Eine Geschichte des Gehens". Die Urbanisierung nahm zu, die reine Natur wurde zum Ort der Ruhe, in dem man den die Städte bevölkernden Autos entgehen konnte. Die waren es auch, die dem Gehen seinen ursprünglichen Zweck entfremdeten: sich fort zu bewegen.

Zu gehen birgt jetzt etwas Heilendes, Klärendes, es bringt etwas in Gang. "Es entsteht eine sonderbare Übereinstimmung zwischen innerer und äußerer Bewegung. Ein neuer Gedanke scheint oft wie ein Merkmal der Landschaft, das sich dort immer schon befunden hat, als ob Denken eher Reisen als Erschaffen wäre, beobachtet Solnit. Und beschreibt damit ein vertrautes Erlebnis. Der Rhythmus des Gehens regt einen besonderen Rhythmus des Denkens an, Ideen tauchen endlich auf, nach dem man verzweifelt suchend über ihnen gegrübelt hatte. Robert Walser fasst es mit spazieren muss ich unbedingt, um mich zu beleben zusammen.

Das Gehen ist politisch

Neben dem absichtslosen Spaziergang allein, machen Protestmärsche das Gehen politisch, Flaneure und Flaneusen wandeln, erhaben durch kritisches Beäugen und bedachtes Wahrnehmen, im Gewusel der anderen umher. Wie Forrest Gump kann man laufend im nächsten Augenblick aus der gewohnten Umgebung ausbrechen und so autark ganze Staaten durchqueren. Oder aber, man belässt es bei dem harmlosen Zeitvertreib, dem manchmal mühsam antrainierten, nicht gerichteten Gehen von der Haustüüber die Straße - und entdeckt eine Cola-Dose.

"Vielleicht wird den Leuten klar, eine Südseeinsel ist keine Berliner U-Bahnstation, Menschen aus der westlichen Welt interessiert die Geografie gar nicht mehr", fasst Martin Schmitz die Wirkung von nun bewussterem Spazieren innerhalb limitierter Entfernungen zusammen. Wie weit komme ich, nur mit meinen beiden Beinen? Wie sehen die Distanzen aus, die normalerweise im U-Bahn-Fensterrahmen vorbei rasen? Was lauert hinter der nächsten Ecke, um die ich noch nie gegangen bin? Lässt sich ein Idyll am Flussufer des Landwehrkanals entdecken, auch wenn es nicht dem vorgegebenen Ideal entspricht?

"Ein Pfad ist eine bereits fertige Überlegung hinsichtlich der Frage, wie eine Landschaft am besten zu durchqueren sei. Einer Route folgen bedeutet, eine Interpretation zu akzeptieren und Vorgängen zu folgen," heißt es bei Rebecca Solnit. "Denselben Weg zu gehen heißt, etwas Tiefes zu wiederholen." Wer nicht allein entdecken will, setze also seine Füße einfach in die hinterlassenen Abdrücke und folge dem Pfad der anderen Spaziergänger, gerade sind viele unterwegs.