Kulturwissenschaftler Thomas Macho

"Kunst rebelliert immer wieder gegen zu viel Hygiene"

Hygiene ist ein Kampfbegriff. Die Regierenden ordnen sie an, Demonstranten sprechen von den Corona-Maßnahmen als "Hygiene-Diktatur". Kulturwissenschaftler Thomas Macho erklärt den Ursprung des Konzepts – und in welchem Zusammenhang es nichts zu suchen hat

Thomas Macho, seit wann gibt es das Konzept der Hygiene, so wie wir den Begriff heute benutzen?

Das Konzept ist schon in der altgriechischen Medizin aufgetaucht. Der Begriff der Hygiene leitet sich von Hygieia ab, der altgriechischen Göttin der Gesundheit. Interessant ist, dass in diesem Kontext Hygiene den Individuen als Haltung empfohlen werden sollte, während strukturelle Hygiene noch kaum praktiziert wurde. Und diese Auffassung blieb auch sehr lange gültig. Nach Maßgabe asketischer Lehren sollten die Menschen darauf achten, was sie essen und ausscheiden oder wie sie sich bewegen. Es ging im weitesten Sinne um Körperpflege.

Die ja nicht unbedingt Krankheiten verhindern kann …

Nein, und deshalb standen die Menschen Epidemien auch immer wieder recht hilflos gegenüber. Da hilft die Belehrung der Individuen nicht viel. Man kann schon bei Hippokrates lesen – und das bleibt teilweise bis zum 19. Jahrhundert so –, dass überlegt wird, ob Epidemien durch schlechte Luft ausgelöst und verbreitet werden, nach der Miasmen-Lehre, die böse oder faulige Gerüche für Epidemien verantwortlich machen. Oder sollte es am Wasser liegen? Luft und Wasser waren die einzigen Lösungen, die den Menschen eingefallen sind. Es dauert sehr lange, bis eine modernere Version von Verwaltung und sanitären Strukturen umgesetzt wird. Selbst in der Aufklärung – zum Beispiel in Diderots Enzyklopädie – geht es noch um die Verantwortung des Einzelnen. Die Menschen sollen Hände waschen und so weiter. Wie man gegen Epidemien wie die der Pest oder Cholera effektiv vorgehen kann, bleibt für lange Zeit völlig unsicher.

Der Bezug zur Göttin Hygieia und das Wegbeten der Pest zeigt, dass man das Verhindern von Krankheiten ins Transzendente "outgesourced" hat.

Ja, bis heute gibt es Menschen, die eine Pandemie, wie wir sie jetzt gerade erleben, als Strafe für menschliche Verfehlungen oder als Geißel Gottes interpretieren. Die Neigung, auf Götter auszuweichen und gleichzeitig Schuld auf sich zu nehmen, ist nie ganz verschwunden. Wenn es eine Konstante in der Geschichte von Epidemien gibt, dann ist es die Suche nach den Schuldigen. Das findet man schon in der Einleitung zu Boccaccios "Decamerone", das er Mitte des 14. Jahrhunderts kurz nach dem Ausbruch der Pest in Florenz verfasst hat oder bei Daniel Defoes Aufzeichnungen von 1722 über die Pest in London. Es sind immer irgendwelche Außenseiter – in antisemitischer Zuspitzung oft die Juden –, und manchmal interessanterweise die Ärzte, denen vorgeworfen wurde, selbst die Pest zu verbreiten. Man hat zwar angedacht, dass etwas gegen Luft- und Wasserverschmutzung unternommen werden muss, aber wirklich effektiv waren die Maßnahmen lange nicht. Manche Strategien muten heutzutage absurd an: Gegen die Miasmen, also die krank machende Luft, hat man zum Beispiel Feuer auf Straßenkreuzungen angezündet.

Was brachte die Veränderung?

Der Umbruch erfolgte durch die Bakteriologie mit berühmten Vertretern wie Alexandre Yersin und Robert Koch im 19. Jahrhundert. Aber es war auch dann noch schwer, dieses Wissen zu verbreiten, gerade in der Ärzteschaft. Das kann man am Beispiel des Kindbettfiebers illustrieren – eine tragische und aus heutiger Sicht verrückte Geschichte. Man kann gar nicht mehr ermessen, wie viele Frauen und auch Neugeborene gestorben sind, weil die Ärzte direkt von den Leichensektionen zu den Geburten gingen, ohne sich vorher die Hände zu desinfizieren. Und der arme Chirurg und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erster diese Verbindung hergestellt hat, wurde denunziert und diffamiert. Auch die Bevölkerung musste immer wieder an Hygienemaßnahmen erinnert werden. Ich finde es interessant, dass das jetzt wiederkehrt. Nach der Oktoberrevolution haben russische Filmemacher wie Dziga Vertov den Arbeitern erklärt, welche Vorteile es hat, nicht unentwegt auszuspucken, oder die Hände regelmäßig zu waschen. Wenn man dann heute das Video sieht, dass Ursula von der Leyen über das korrekte Händewaschen gedreht hat, bekommt man das Gefühl, dass sich nicht wahnsinnig viel geändert hat.


Hygiene soll erst einmal alle möglichst gesund halten. Im Moment ist sie aber ein Kampfbegriff. Die Regierenden ordnen die Einhaltung von Hygieneregeln in der Corona-Krise mit Verweis auf Solidarität  an, Demonstranten sprechen dagegen von "Hygiene-Diktatur".  Wie kommt die Politik ins Konzept?

Diese Erfahrung machen wir ebenfalls ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: dass ein Konzept, eigentlich ein Projekt der Aufklärung, plötzlich ausgeweitet und der Begriff Hygiene auf Sachverhalte bezogen wird, mit denen er nichts zu tun hat. Man fängt an, von Hygiene in Bezug auf die Bevölkerung, die sozialen Verhältnisse und auf die "Rassen" von Menschen zu sprechen. Das führte zur Verbreitung von eugenischen Vorstellungen, was natürlich fatal war und zu vielen Gräueln des 20. Jahrhunderts beigetragen hat. Die Ausweitung des Hygienebegriffs auf Zugehörigkeit und Fremdheit können wir in anderer Form auch in der Gegenwart beobachten, man denke nur an die rassistischen Anfeindungen, denen Personen aus China oder asiatisch aussehende Menschen ausgesetzt waren.

Kann man diesen politischen Ballast heute ausklammern, oder bewegt man sich zwangsläufig auf dünnem Eis, wenn man über Hygiene spricht?

Man muss die gesundheitliche und die politische Dimension des Begriffes auseinanderhalten, aber man bewegt sich in gewisser Hinsicht natürlich auf dünnem Eis – gerade, wenn etliche Verschwörungstheorien kursieren. Man muss sinnvolle Quarantäne-Maßnahmen von einer diffusen Angst unterscheiden, die sich gegen alles richtet, was "fremd" ist und vermeintlich nicht dazugehört. Besonders wenn die angeordneten Maßnahmen mit der dringenden Empfehlung der Distanz zu anderen Menschen einhergehen. Das führt ja rasch dazu, dass jeder andere als potenzielle Gefahr wahrgenommen wird. Schon lange vor Corona gab es die Bilder, wie Menschen, die mit Booten auf Lampedusa ankamen, von medizinischem Personal in Schutzausrüstung empfangen wurden und zuerst auf Krankheiten untersucht wurden. Das war auch schon auf Ellis Island bei den Migranten aus Europa so. Und natürlich hat das seine Berechtigung. Gleichzeitig muss man aber aufpassen, dass keine symbolische Übertragung passiert und diese Menschen als potenzielle Feinde wahrgenommen werden, weil sie Erreger mitbringen könnten. Man muss vielleicht auch nach Gegenbeispielen suchen. Ein Astronaut wird nach der Landung auf der Erde auch in Quarantäne genommen – und man geht nicht davon aus, dass seine "Fremdheit" der Grund ist.  

Was macht das mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben, wenn man andere Menschen vornehmlich als Gefahr wahrnimmt?

Es beeinflusst das, was wir für das komplexe soziale Zusammenleben, zum Beispiel in Großstädten oder sogar in Schulen, unbedingt brauchen: nämlich Vertrauen. Und ich denke, dass es nicht zu vermeiden ist, dass dieses Vertrauen beschädigt wird und ein Stück weit in Misstrauen umgekehrt wird. Und doch muss man immer wieder daran erinnern, dass Misstrauen – wie gesund es auch manchmal ist – nicht verallgemeinert werden darf. Nicht jeder ist an sich eine Bedrohung, sondern wir sind mit einer Pandemie konfrontiert, die wir noch nicht umfassend verstehen. Vor 100 Jahren hat die Spanische Grippe so viele Tote gekostet, weil man Viren noch nicht gekannt hat. Und auch heute gibt es noch viele Unsicherheiten.

Hygiene ist auch ein riesiger Markt. Produkte werben mit Slogans wie "Entfernt 99 Prozent alle Keime", gleichzeitig sind wir überall von Mikroorganismen umgeben. Ist die moderne Idee von Reinheit und "Sauberhalten" ein Trugschluss?

Wir leben immer im Verbund mit Bakterien und Viren, und die meisten davon sind nicht gefährlich, sondern durchaus nützlich. Das ist eine Form von Konvivialität, also ein Zusammenleben von vielen Spezies. Man muss vielleicht die Hygiene-Aufklärung auch damit verbinden, dass das Immunitäts-Paradigma nur teilweise stimmt.

Wir können jetzt schon sehen, wie sich das Design im öffentlichen Raum auf Abstand einstellt: glatte Oberflächen, am besten abwaschbar, Plexiglas-Scheiben, Flatterband und Personenleitsysteme wie am Flughafen. Wird die Pandemie auch die Ästhetik prägen?

Sie wird die Ästhetik und die Umgangsformen verändern. Und natürlich die ganzen Spielarten der Nah-Fernkommunikation, die auch mit Ästhetik zu tun haben. Das Internet hat uns bereits an das Glatte, Nicht-Haptische gewöhnt, und wir saßen auch vorher schon mit dem Handy kommunizierend in der Bahn und haben den Menschen neben uns ignoriert. Diese Strategie, Nähe und Ferne für austauschbar zu erklären, wird viele ästhetische Konsequenzen haben. Und wir werden uns noch stärker daran gewöhnen – außer wir vergessen die Pandemie-Erfahrung in naher Zukunft wieder. Was durchaus sein kann. Es gibt viele Beispiele dafür, dass sich große Krankheitsausbrüche mit dramatischen Folgen im kollektiven Gedächtnis überraschenderweise nicht erhalten haben. Man denke nur an die Spanische Grippe, die Grippe-Epidemien nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Hongkong-Grippe in den 70ern.

Wie steht eigentlich Kunst zur Hygiene? Unter totalitären Regimen wird sie oft mit Reinheitsgeboten belegt, andererseits hat sie sich immer für das Hässliche, Abjekte und Tabuisierte interessiert. Es gibt ziemlich viel Blut-, Schleim- und Urinkunst …

Kunst hat immer wieder gegen zu viel Hygiene rebelliert – aber das natürlich in einem Schutzraum. Man darf nicht vergessen, dass die zeitgenössische Kunst von einer basalen Hygiene profitiert. Bilder werden geschützt, vor Licht, Feuchtigkeit und so weiter. Noch Beuys' "Honigpumpe" oder seine "Fettecke" werden unter möglichst sterilen Bedingungen im Museum gezeigt. Kunst interveniert und protestiert, gleichzeitig partizipiert sie aber an einem System der Hygiene, das einen Ausstellungsbetrieb erst ermöglicht.

Jetzt kann es passieren, dass man mit Mundschutz ins Museum geht, sich am Eingang die Hände desinfiziert und dann eine Gedärm-Skulptur von Lynda Benglis oder eine Blutorgie von Hermann Nitsch anschaut. Ist das nicht etwas absurd?

Man muss wohl eine Weile mit diesen Widersprüchen leben. Aber es ist gut, sie gelegentlich zu bemerken und darauf hinzuweisen.