Eines Nachts im Jahr 1955 träumt Jasper Johns, dass er eine große US-Flagge malt. Am nächsten Morgen steht er auf und macht sich ans Werk. "Indem ich das Design der amerikanischen Flagge übernahm, sparte ich mir viel, ich brauchte es nicht mehr selbst zu entwerfen. Dies gibt mir die Freiheit, auf anderen Ebenen zu arbeiten", sagt er später in einem Interview. Er will mit etwas arbeiten, das nicht erfunden war, sondern so gut bekannt, dass es nicht gesehen wurde.
In der Hochphase des Superpatriotismus der McCarthy-Ära, in der die Furcht vor dem "inneren Feind" am größten war, beginnt Johns das "heilige" Objekt auf die Leinwand zu bannen. Er nennt es eine "ästhetisch und nicht patriotische Verehrung der Flagge". Sie wurde sein Markenzeichen – und mit ihnen wird er zum Wegbereiter der Pop-Art.
Mit einer großen Retrospektive wollen jetzt zwei US-Museen den Künstler zu seinem 90. Geburtstag am Freitag feiern. "Die radikale und innovative Kunst von Jasper Johns beeinflusst die Künstler von heute weiter wie nur wenige andere", heißt es vom New Yorker Whitney Museum und dem Philadelphia Museum of Art, wo die Ausstellung am 28. Oktober eröffnen sollte. Corona-bedingt wird "Jasper Johns: Mind/Mirror" nun zu einem späteren Zeitpunkt zu sehen sein.
Spiel mit Zufall und Absicht
Jasper Johns wird am 15. Mai 1930 im US-Bundesstaat Georgia geboren. Seine Eltern trennen sich nach seiner Geburt und er wächst bei seinen Großeltern und Verwandten auf. Solange Johns zurückdenken kann, wollte er Künstler werden, wie sein Großvater. In seiner Vorstellung sind Künstler "wertvolle und interessante Persönlichkeiten" und gesellschaftlich nützlich. Johns Besuch der Cézanne-Ausstellung 1952 im Metropolitan Museum New York wird für ihn zum "Meilenstein" seiner Entwicklung zu einem "ernsthaften" Maler. Cézanne bleibt neben Marcel Duchamp zeitlebens sein Bezugspunkt.
In New York beginnt Johns in einem Buchladen zu arbeiten. Er lernt den Schaufensterdekorateur und Künstler Robert Rauschenberg kennen und assistiert ihm. Aus der Begegnung entsteht eine lebenslange Freundschaft. Durch ihre täglichen Atelierbesuche ermutigen sich die beiden doch sehr unterschiedlichen Künstler. Jasper Johns gibt seinen Job im Buchladen schließlich auf, um sich ganz der Malerei widmen zu können. Seinen Lebensunterhalt verdient er weiter als freier Schaufensterdekorateur.
Durch Rauschenberg lernt Johns den Musiker John Cage und den Choreografen Merce Cunningham kennen. Johns übernimmt deren Einsatz von Zufallsprozessen für seine eigenen Werke. Für Cunninghams Stücke entwerfen Johns und Rauschenberg in den folgenden Jahren Bühnenbilder, Kostüme und Plakate. Durch John Cage, der regelmäßig mit Marcel Duchamp Schach spielt, lernt Johns sein Vorbild endlich persönlich kennen. Es bleiben kurze Begegnungen, aber ihre gegenseitige Achtung ist deutlich. Beide sind zurückhaltend in ihrer Art, aber mit einem ausgeprägten Humor. Als intellektuelle Künstler schaffen sie Werke, die zur Neugierde anstacheln und schwer zu durchschauen sind. Sie bedienen sich an vorgefertigten Bildelementen und spielen mit Zufall und Absicht, Darstellung und Wirkung.
"Nimm einen Gegenstand. Mach etwas damit. Mach etwas anderes damit."
Der Galerist Leo Castelli wird bei einem Atelierbesuch bei Rauschenberg auf den jungen Johns aufmerksam. "Ich ging in das Atelier", erinnert sich Castelli, "und da stand dieser anziehende, sehr schüchterne junge Mann mit all diesen Bildern. Ich war erstaunt, ein vollständiges Oeuvre. Es war das Unglaublichste, was ich in meinem Leben gesehen hatte." In einer Gruppenausstellung zeigt der Galerist 1957 erstmalig Johns' "Flag", ein Jahr später hat Johns seine erste Einzelausstellung. Er wird zur Sensation und Mittelpunkt eines Kritikerstreits über die Grenzen und Aufgaben der Malerei, der Jahre anhalten sollte.
In der Folge verlegt Johns sich vom bisher verwendeten Anstreicherlack auf die schneller trocknenden Wachsfarben. Diese Farbe ermöglicht ihm, Pinselstriche in rascher Folge übereinander zu setzen, ohne ihre Eigenständigkeit zu zerstören. Sie wird zum Kennzeichen seiner Arbeiten.
"Mehr als eine Person"
Der ewige Brennpunkt von Johns Arbeit ist die Wahrnehmung, die Frage nach dem, was man sieht und warum. Er setzt sich eingehend mit Ludwig Wittgensteins "Philosophischer Grammatik" auseinander und ergründet, wie Malerei als Zeichensprache funktioniert: "Nimm einen Gegenstand. Mach etwas damit. Mach etwas anderes damit." Johns Bilder treibt dieses Prinzip ins Extrem, Bierdosen oder Schuhe werden zu Skulpturen und damit zu einem Wahrnehmungstest. "Manchmal sehe ich es und dann male ich es. Zu anderen Zeiten male ich es, und dann sehe ich es."
Heute lebt Johns alleine und zurückgezogen auf seinem Anwesen im US-Bundesstaat Connecticut. "Ich gehe nirgendwo mehr hin", sagte der Künstler kürzlich der "New York Times". Aber er arbeite weiter, jeden Tag. Er entzog sich zeitlebens den Fragen über seine Person und einer genauen Erläuterung seiner Werke, das betont er auch in seinem jüngsten Interview. Damit bleibt er für viele undurchschaubar, genügsam höflich und gleichzeitig angewidert von jeglichem Interesse zu seinem Privatleben: "Mich interessieren Dinge, die auf die Welt und nicht auf die Persönlichkeit hinweisen." Wer also ist über diesen Jasper Johns zu sagen? "Ich glaube, ich kann mehr als eine Person sein. Ich glaube, ich bin mehr als eine Person. Unglücklicherweise", sagt Jasper Johns selbst.