Natürlich muss nicht alles, was man dieser Tage entdeckt oder betrachtet, in die Corona-Geschichtsschreibung eingepasst werden. Im Falle von David Hockneys "My Window"-Bilderserie, die den immer gleichen, aber niemals selben Blick aus dem Fenster des britischen Malers in seinem Zuhause in East Yorkshire zeigt, ist die Versuchung aber schon sehr, sehr groß.
Entstanden sind die Bilder innerhalb des letzten Jahrzehnts: 2009 begann Hockney erste Zeichenversuche auf seinem iPhone, ein Jahr später stieg er aufs damals marktneue iPad um. Eine Auswahl seiner digitalen Zeichnungen sind jetzt als limitierte Sammler-Edition bei Taschen erschienen, wo Hockney bereits in den vergangenen Jahren zum Beispiel mit dem viel besprochenen XXL-Künstlerbuch "A Bigger Splash" vertreten war. Die vorliegende Edition dürfte ob seines Verkaufspreises für den durchschnittlichen Kunstbuchkäufer nun in ähnlicher Ferne erscheinen wie aktuell der Normalzustand, der gewohnte Alltagsteppich, von dem Hockneys Bilder ihren Betrachtern durchs heimische Fenster hindurch eine kleine Andeutung vermitteln. Aber zumindest die finanzielle Ferne ist ja eigentlich kein besonderer Umstand, sondern eher modus operandi des Schreibens über Kunst.
Changierende Portale
David Hockneys Konzentration aufs häusliche Lebensumfeld statt Atelier schlägt sich natürlich auch in seinem Motiv wieder: Bieten sich Fenster in der Kunstgeschichte immer wieder als bewährte Blicköffner in das Dahinter, Daneben oder Danach an, interessiert sich der Maler mindestens ebenso für das Davor, oder vielleicht eher für das Fenster als changierendes Portal, das zwischen Drinnen und Draußen hin- und herswitchen kann.
Vor allem den regelmäßig wechselnden Blumensträußen, die Hockneys Lebensgefährte John Fitzherbert zusammenstellt, widmet die Bilderserie viel Aufmerksamkeit: Pfingstrosen und Anthurien kann man ausmachen, oft aber auch nur die schwarzen Blumensilhouetten, wenn das Licht vor dem Fenster zu hell hereinscheint. Manchmal dringen Sonnenstrahlen gleißend hell durch die Jalousienmembran herein, ein anderes Mal strahlt nur die Schreibtischleuchte auf der Fensterbank vor der grauen Nacht. Überhaupt erstaunlich, wie ein doch überschaubares Pre-Set an malerischen Mitteln, eine Handvoll Farben, Transparenzstufen und Pinselstärken, bei allem DIY-Charme einen so plastischen Eindruck von Tages- und Jahreszeiten, Lichteinfall und Himmelsformationen zu vermitteln mag. Neben letztgenannten bleibt von der Außenwelt vor allem ein Baukran im Gedächtnis, der sich immer wieder hinter einem Häuserdach in den Himmel reckt.
Gnadenlos zugängliche Simplizität
Im Vorwort zu "My Window" beschreibt David Hockney auf denkbar pragmatischste Weise, wie er die Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion vor gut zehn Jahren für sich entdeckte: "Ich musste nicht einmal aus dem Bett steigen. Alles, was ich brauchte, befand sich auf dem iPhone." Weil dessen Hintergrund beleuchtet ist, konnte er fortan sogar im Dunklen zeichnen. Eine Erweiterung der künstlerischen Möglichkeiten im besten Sinne: Niemals, so Hockney weiter, sei es ihm in den Sinn gekommen, einen Sonnenaufgang zu malen oder zeichnen. Dank Smartphone war auch das nun möglich. Ein Jahr später ließ er sich ein iPad aus Kalifornien mitbringen und stieg um.
Schön (und überraschend beispiellos in seiner Liga, schaut man sich die relativ verbreiteten Aversionen gegen technisches Gerät/Medium/Plattformen an) ist die Selbstverständlichkeit, mit der Hockney als der Malergigant, als der er ja fraglos gilt, Smartphone und später Tablet als ernst gemeintes Mittel der Wahl zur Hand nimmt. Statt eine potentielle Lächerlichkeit zu fürchten, macht er sich die gnadenlos jedermann zugängliche Simplizität zu Nutze. Die Bilder, die so entstehen, wirken im Gestus dann auch fast wie eine logische Erweiterung seiner bemalten Leinwände (vielleicht eine Art Capsule-Collection): Figurative Ansichten in schwelgenden Pop-Art-Farben, die eine Hockney-eigene Kühnheit stets davor bewahrt, allzu arg aus dem Ruder zu laufen.
Es sind knallig bunte Kontemplationen aus dem iPhone respektive iPad. Und obwohl sie das Drinnen als Rückzugsort der Konzentration aufs zeichnerisch Wesentliche zelebrieren, benötigen sie unfraglich die physische Welt da draußen, vor der sich dies alles abspielen kann.