Susanne Ristow, Viren sind überall, wir schwimmen regelrecht jeden Tag in einem Viren-Meer, auch wenn wir selten an diese unsichtbaren infektiösen Strukturen denken. Was fasziniert Sie daran?
Vor allem der große Unterschied zu den uns vertrauter und kontrollierbarer erscheinenden Bakterien. Die Bakteriologie seit Pasteur und Koch hat unser latent biologistisches Denken bis heute geprägt. Viren jedoch sind eben nicht die immer gleiche Kopie von biologischer oder technologischer Information, sondern haben diese spezifische Neigung zu Mutation. Susan Sontag hat mal schön formuliert, dass das Virus ein Synonym für Veränderung sei. Manche Forscher sprechen sogar von "Virolution". Das fasziniert auch Künstlerinnen und Künstler seit langer Zeit an der Denkfigur Virus. Neu ist, dass man um das Jahr 2000 bei der Genomforschung festgestellt hat, dass ein Großteil der menschlichen Erbinformation aus Virenresten besteht. Insofern ist es vielleicht das fremdgewordene Eigene, das uns im Virus begegnet.
Ohne Viren gäbe es gar kein menschliches Leben.
Sicher nicht in der Form, wie wir es kennen und schätzen. Andererseits gibt es natürlich auch Stimmen, die uns Menschen als viralen Befall des Weltkörpers beschreiben.
Sie haben eine sehr freundliche Sicht auf Viren, während das Coronavirus bei vielen Menschen Panik auslöst.
Das ist ganz normal, die Panik gehört zum Virendiskurs und ist ein Erbe der im kollektiven Gedächtnis bewahrten Angst vor der Pest. Wenn so eine Gefährdung auftaucht, stellt sie eine willkommene Gelegenheit dar, um biopolitische Machtverhältnisse zu erproben, worauf Giorgio Agamben im Rückgriff auf Carl Schmitts Diktum "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" aufmerksam gemacht hat: Wer ist es, der den Ausnahmezustand verhängen kann? Von der Quarantäne ist der Weg ins Internierungslager nicht weit. Im Zusammenhang mit dem Coronavirus wird wie in der Migrationsdebatte wieder ganz gezielt mit Alarmismen und ihrer digitalen Verbreitung als "Infodemie" gearbeitet, und in deren Fahrwasser schwimmen Rassismus, Reinheitsphantasien und vieles mehr, was nur vermeintlich dem Schutz des Lebens gilt. Sie können dieses medientheoretische Viren-Narrativ auch seit den 1990ern im Film beobachten, etwa in Wolfgang Petersens "Outbreak" oder Steven Soderberghs "Contagion". Da greifen die gleichen Muster: die Suche nach dem Patienten Zero, die Schuldfrage, der Diskurs um Verunreinigung, die Frage nach unserer Existenz im Grenzenlosen.
Wie können sich Medienkonsumenten gegen dieses Narrativ wehren?
Cool bleiben! Nichts ist ansteckender als Angst. Selbstverständlich sollte man medizinisch sinnvolle Hygiene einhalten, sich und seine Familie impfen lassen und Verschwörungstheorien von Impfgegnern mit gesunder Skepsis betrachten. Aber die Art und Weise, wie derzeit in Norditalien und mittlerweile auch bei uns in Deutschland absolut irrationale Panik der Menschen voreinander entsteht, wie Supermärkte leergekauft und asiatisch anmutende Mitmenschen in der Öffentlichkeit attackiert werden, zeigt doch, dass es eine erschreckende Ignoranz hinsichtlich des längst bekannten viralen Globalisierungswissens gibt. Weltweit miteinander vernetzt zu sein, bedeutet weitaus mehr, als nur Rohstoffe, Waren, Arbeitskräfte, Wissen und Kulturgüter miteinander auszutauschen. Wir brauchen Vertrauen ineinander.
Sie sind keine Medizinerin, aber als Bürgerin, Medienkulturwissenschaftlerin und Künstlerin gefragt: Bereitet Ihnen die Ausbreitung des Coronavirus denn keine Sorgen?
Dazu habe ich eine existentialistische Einstellung: Wir bewegen uns immer auf dünnem Eis. Ich lasse mich ungern in den Sog apokalyptischer Szenarien ziehen, bevor die Situation da ist. Vorstellbar ist eine Pandemie wie die Spanische Grippe von 1918 ebenso wie ein Dritter Weltkrieg, aber sollte ich dergleichen Vorstellungen auch noch mit Bildern oder Worten befeuern? Wir brauchen Nüchternheit, Wachheit, Humor, Mut zur Möglichkeit und Erkenntniswillen und sollten uns ohnehin an jedem Tag unseres Lebens bewusst machen, dass wir gefährdete Wesen sind und dementsprechend engagiert leben.
Sie erforschen die Denkfigur des Virus in der Kunst- und Mediengeschichte. Wo fängt das an?
Die Vorstellung vom zirkulierenden infektiösen Agenten, der Mutation und Rekombination in Entwicklungsprozessen möglich macht, sehen Künstler seit langem positiv, sogar schon avant la lettre, bevor man Ende der 1930er-Jahre wusste, was Viren überhaupt sind. Schon 1923 hat Tristan Tzara in seiner wunderbaren Grabrede zur Bestattung Dadas beim Bauhausfest formuliert, Dada sei eine Mikrobe, die sich in alle Zwischenräume setze, die noch nicht von Worten oder Konventionen besetzt seien. Später wird das Kunst-Virus in Latenz durch Situationismus, Lettrismus, Fluxus und William S. Burroughs wiederbelebt und weiterverbreitet. Irgendwann gibt es eine regelrechte Subversionsromantik durch die Virustheoretiker des Poststrukturalismus, die im Virus die letzte Hoffnung sehen, zu verhindern dass aus Natur wie Kultur des menschlichen Lebens ein völlig gleichgeschaltetes System wird.
Sie halten offenbar nicht allzu viel von diesen Theorien.
In unserer digitalisierten Realität des 21. Jahrhunderts darf man skeptisch sein, ob das mit der Subversion so funktioniert, wie es sich Jean Baudrillard, Jacques Derrida oder Gilles Deleuze in den 1980ern vorgestellt haben. Technologische Gleichschaltung ist eine Gefahr, die mir mehr Sorgen macht, als das Coronavirus. Immunisieren wir uns nicht infolge standardisierter Vorauswahl nurmehr durch entschäfte Erreger gegen wirkliche Kunst und Kritik? Im Moment kommt der wohl interessanteste philosophische Ansatz zum Immundiskurs, wie ihn auch Peter Sloterdijk thematisiert hat, aus Italien. Das geht bei Agamben los und wurde von Roberto Esposito ausformuliert in sein Büchern zu "Immunitas. Schutz und Negation des Lebens" und "Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft". Er spricht von einem "Biological Turn" zum Ende des 20. Jahrhunderts und versteht Öffnung der Gemeinschaft und die teilweise Aufgabe von Immunität immer als Risiko und Möglichkeit gleichermassen. Das Virus erscheint in diesem Zusammenhang als Ausdruck eines "unbeherrschbaren Lebensprinzips".
Viren sind Strukturen zwischen Leben und Tod und auf Zellen angewiesen. Trifft das auch für Kunst zu?
Unbedingt. Es gibt für mich als Kulturvirologin und Künstlerin kein eigenständiges "Leben der Bilder". Kunst braucht stets einen Wirtskörper, den Rezipienten. Meiner Ansicht nach funktioniert es auch nicht so, wie sich das die in der Digitalära so populäre Memetik vorstellt, dass es vermeintlich frei zirkulierende kulturelle Informationspartikel gibt, die sich zu größeren Meme-Komplexen zusammenschließen. In jedem Fall wird die menschliche Vorstellungskraft und somit ein Körper als lebendiges Trägermaterial gebraucht. Eine solche Sichtweise sorgt für Konfrontation mit den Verfechtern künstlicher Intelligenz in der Nachfolge der ersten Computerviren als "selbstreproduzierende Automaten" und erklärt übrigens ganz nebenbei auch das übergroße Interesse am Phänomen des "Untoten" in der Popkultur.
Sie sprechen häufig von "Viral Art". Ist jedes Kunstwerk an sich viral?
Nein, es bleibt ein wichtiger Unterschied, ob ein Werk durch technische Reproduktion "viral geht", oder schon nach den Kriterien des Viralen produziert wird. Es gibt Kunstschaffende mit einer spezifischen Neigung zu Viralität, die arbeiten viel mit dem durch einen Technologiewandel zu verzeichnenden massenkulturellen Prinzip des Kopierens und Weiterverbreitens, wie wir es ja auch aus der Popkultur kennen: Sampling, Mash-Up und Fake sind ebenso wie Kommunikationsguerilla virusspezifische Kulturtechniken. Das geht mit dem Collagieren und dem Zerteilen grammatikalischer Zusammenhänge bei Dada los und führt über das Cut-up auf vielen bemerkenswerten Umwegen bis zur urbanen Street-Art-Praxis und zur digitalen Partizipationskultur.
Der Coronavirus und viele andere Viren sorgen für Erkrankungen, oft mit tödlichen Ausgang. Taugt das Virus da als Metapher für Kunst, deren Großartigkeit ja gerade darin besteht, dass sie symbolisch bleibt und niemanden tötet?
Kunst ist ja keinesfalls harmlos, und man kann durchaus von Bildern besessen sein und aus der Balance geraten wie ein erkrankter Wirtskörper. Ich denke jedoch, dass uns die krisenhaft empfundene Immunreaktion auf Fremdes und Unbekanntes in der Kunst wie im Leben stärkt und belebt. Aber klar, es ist der wesentliche Unterschied zwischen Kunst und Politik, dass auf einen ersten Ausbruch in der Regel nicht gleich Notstandsgesetze folgen.
Viren tauchen immer wieder als visuelle Figuren und als Modell in Ihrer künstlerischen Arbeit auf. Die Wissenschaft braucht bildgebende Verfahren und Hilfsmittel, um Viren darzustellen. Sie konnten auch bei Forschern einen künstlerischen Ehrgeiz bei der Darstellung von Viren beobachten, haben Sie einmal erzählt.
Ich habe unterschiedliche Virologen an ihrem Arbeitsplatz besucht und war immer wieder fasziniert von deren ästhetischem Anspruch bei der Sichtbarmachung, ihrem Willen zur Wiedererkennbarkeit ihrer Bildbearbeitung. Aus grauen Rasterelektronenmikroskop-Aufnahmen, die in der Regel unscharf sind und wenig suggestives Potenzial haben, generieren künstlerisch ambitionierte Wissenschaftler im Photoshop unglaubliche Gestaltungen, die aussehen wie außerirdische Landschaftsaufnahmen. Es gibt dabei regelrechte Meister dieser teilweise schon an dieser Stelle alarmistischen Bildmaterialien: Der eine stellt Viren wie Torpedos da, der andere wie ein Raumschiff im Landeanflug. Ich habe für eine künstlerische Arbeit sieben verschiedene Typologien unterteilt, und auch in den letzten Tagen ist mir in der medialen Berichterstattung stark aufgefallen, welche symbolischen Räume sich da auftun, wenn wir die verbreiteten Bildmotive genauer betrachten.
Die Strukturen der Kapsids, der Proteinhüllen von Viren, sind komplexe geometrische Körper. Sehen Sie darin auch Schönheit?
Auf jeden Fall, ich bewundere beispielsweise die mathematische Virologie oder die biologischen Strukturanalogien zwischen Viren und Pflanzenkapseln, aber ich finde es noch bemerkenswerter, was aus diesen ursprünglich unsichtbaren Formen in der Wissensvermittlung gemacht wird. Besonders schön finde ich etwa die allerersten Darstellungen von Viren, die ähnliche wie die Modelle nach der Entdeckung der DNA-Doppelhelix in mühevoller Handarbeit als an Architektone Buckminster-Fullers erinnernde Plastiken entstanden. Da kamen wie einst in den Wunderkammern wissenschaftliche und künstlerische Herangehensweise an die Welt zusammen und so hat auch heute mit dem konnektiven "Prinzip Virus" wieder alles mit allem zu tun. Dieses künstlerisch-wissenschaftliche Zusammenhangsdenken nenne ich Kulturvirologie.