Immer nach Feierabend knöpft sich Natasha Olga vor. Natasha leitet die Kantine, die jüngere Olga arbeitet mit. Sie könne den Boden doch morgen früh wischen, findet Olga. Nein, jetzt, sagt Natascha herrisch. Die beiden streiten sich oft, wenn die Kantinengäste weg sind. Zerren sich schon mal brutal an den Haaren. Natascha drängt Olga Wodka auf, bis ihr das Gesöff hochkommt. Irgendwann sind beide sturzbetrunken. Der Wodka ist echt, und die in Hassliebe verbundenen Frauen sind keine Schauspielerinnen. Mehrfach erlebt man, wie die beiden Frauen im Film "Dau: Natasha" die Kontrolle verlieren. In Situationen, die bei üblichen Dokumentationen eher unter den Schneidetisch fallen würden. Ist das Kunst oder übergriffige Doku-Soap?
Er ist nun draußen, der erste "Dau"-Film aus Ilya Khrzhanovskys totalitärem Stalinismus-Experiment. Und gleich im Berlinale-Wettbewerb gelandet: "Dau. Natasha", eine 145-Minuten-Simulation aus dem Leben einer Sowjetbürgerin. Weiter feiert "Dau. Degeneration" (355 Minuten) am Freitag in der Sektion Berlinale Special Premiere. Ingesamt sollen bereits 14 Spielfilme und außerdem Serien fertig produziert sein, die aber kaum jemand gesehen hat.
Eine stalinistische Parallelwelt in der Ukraine
Der russische Regisseur und Produzent Ilya Khrzhanovsky ließ zwischen 2008 und 2011 rund 700 Stunden Filmmaterial an einem abgeriegelten Drehort in der Ukraine drehen. Nach Motiven aus dem Leben des Physikers Lew Landau – seine Studenten nannten ihn Dau – siedelt das Retro-Universum in der UdSSR zwischen 1938 und 1968. In einem ehemaligen Schwimmbad-Komplex im ukrainischen Charkow wurde eine megalomane Kulisse errichtet, eine stalinistische Parallelwelt. Drei Jahre lang lebten rund 400 Menschen hier, in historischer Umgebung und Kleidung, die bis in den Sprachgebrauch hinein strengen Regeln befolgten. Totalitarismus als Menschenversuch. Ein kontrovers diskutiertes "Dau"-Projekt mit DDR-Erlebnisraum und Mauerreplik in Berlin wurde im September 2018 abgesagt.
Aus Natasha Berezhnaya – im wahren Leben Verkäuferin in Charkow – wurde jedenfalls die Kantinenfrau Natasha. 18 Monate lang hat die Titeldarstellerin tatsächlich im Café des geheimen Forschungsinstituts gearbeitet, um welches das ukrainische "Dau"-Projekt kreist. Im Jahr 1952 bewirtet Natasha tagsüber Mitarbeiter des Instituts, Wissenschaftler, ausländische Gäste. Wie Luc Bigé (er spielt sich selbst), den französischen Forscher, mit dem sie nach einer feuchtfröhlichen Party Sex hat. Geschlechtsverkehr vor laufender Kamera: In Russland wurde der Film als Pornografie eingestuft und verboten.
Wie frei ist eine Laiendarstellerin, Stop zu sagen?
Krasser wirkt die Szene in einem Untersuchungsgefängnis, in der ein KGB-Beamter (Vladimir Azhippo war früher wirklich beim Geheimdienst) der Protagonistin eine Flasche in die Vagina einführt. Eine brutale Ohrfeige verabreicht er ihr auch. Alles im Rahmen eines Verhörs, bei dem Natasha den Wissenschaftler denunzieren soll.
Fairerweise muss erwähnt werden, dass die Mitspieler jederzeit "Stop" sagen und den Dreh unterbrechen konnten. Vor der Flaschenszene sagt Natasha: "Ich will das nicht", lässt es aber doch geschehen. Wie frei in ihrer Entscheidung ist eine Laiendarstellerin, die auf fünf oder mehr Minuten Ruhm hofft? Am Ende des Verhörs will sie von dem KGB-Mann wissen, ob er sie attraktiv findet: Das darf man wohl Stockholm-Syndrom nennen.
Dank dem deutschen Kameramann Jürgen Jürges, der für "Dau" insgesamt eine Million Meter sauteures 35-mm-Material drehte, ist die Fotografie exquisit. Den Schnitt besorgte Khrzhanovskiys Co-Regisseurin Jekaterina Oertel. Rhythmusgefühl und Spannung ist dem Film nicht abzusprechen.
Worin liegt überhaupt der Erkenntnisgewinn im Reenactment?
Natürlich will man wissen, ob sich die Beziehung zwischen den Kantinenfrauen beruhigt oder weiter eskaliert. Selbstredend nimmt man Anteil an Natashas Bestürzung darüber, dass Luc sie am Tag nach der Liebesnacht kalt abserviert. Und man muss auch wissen, ob die Heldin aus dem Verhör heil heraus kommt.
Doch am Ende überwiegt das Gefühl peinlichen Voyeurismus (dem sich der Rezensent allein für eine angemessene Beurteilung bis zum Ende ausgesetzt hat). Zahlreiche Spielfilme in Kontext von Diktaturen wirken stärker als "Dau. Natasha". Von Dokumentationen, in denen Zeugen das Leben in repressiven Systemen schildern, ganz zu schweigen. Worin liegt überhaupt der Erkenntnisgewinn im "Dau"-Reenactment, das Zeit und Millionen verschlang?
Natasha Berezhnaya scheint ihre anderthalb Kantinen-Jahre gut überstanden zu haben. Doch womöglich haben weniger resiliente Gemüter unter den rund 400 Mitwirkenden des unter strenger Geheimhaltung abgewickelten Projekts andere Erfahrungen gemacht. Bis heute scheint kaum jemand offen über seine Erfahrungen sprechen zu wollen. Ein ehrliches Making-Of von "Dau" wäre so interessant wie – unwahrscheinlich.