Die Hashtags heißen #JusticeForJohnnyDepp oder schlicht #HeToo. Amber Heard soll Johnny Depp während ihrer kurzen Ehe geschlagen haben – und nicht umgekehrt. Einige finden, dass das eine weltbewegende Frage ist. Johnny Depp geht es gerade um etwas ganz anderes, und deshalb ist er nach Berlin gekommen. Er trat auf der Berlinale auf, um den Film "Minamata" vorzustellen. Depp spielt dort den legendären Fotografen W. Eugene Smith (1918-1978). Es ist der zweite Spielfilm des Multitalents Andrew Levitas, der auch als Schauspieler sowie als Maler und Installationskünstler bekannt wurde.
"Ich fand, dass diese Story gezeigt und bekannt werden muss", sagt Depp in Berlin über die Umweltkatastrophe im japanischen Minamata, von der die Weltöffentlichkeit 1971 durch das Magazin "Life" erfuhr. "Das war eine wahre Tragödie, und es ist für mich eine Verpflichtung, den Menschen die Augen zu öffnen", sagte der Schauspieler bei der Pressekonferenz.
Depp wirft sich mit Wucht in die Rolle des trinkfesten und ewig im Clinch mit seinem Chefredakteur liegenden Smith, für seine Fotoreportagen aus dem Zweiten Weltkrieg berühmt, Anfang der 70er aber eine eher abgewrackte Erscheinung. Eine junge Japanerin namens Aileen (Minami) besucht Smith in seiner Dunkelkammer-Höhle in New York und drängt ihn, sie an den Minamata-See zu begleiten, der von einem Chemiekonzern mit Quecksilber verseucht wird.
Dass die Firma und die japanische Regierung die verheerenden Folgen für die Bevölkerung zu vertuschen sucht und dabei vor Gewalt nicht zurückschreckt, bekommt auch Smith zu spüren, der sich nun für die Leute von Minamata engagiert: Menschen, die unter schwersten Vergiftungserscheinungen leiden.
Die Undercover-Aktivitäten des Fotografen und seiner Mitstreiter setzt Regisseur Levitas unter Hochspannung in Szene. Auch dank der vielschichtigen Kameraarbeit von Benoit Delhomme gelingt eine bewundernswerte Balance zwischen aktionistischen und nachdenklichen Momenten. Das Leid der mit Lähmungen, Spasmen und schweren neurologischen Störungen kämpfenden Opfer rückt immer wieder in den Vordergrund.
Genau das trieb auch W. Eugene Smith um, der dem "Life"-Magazin schließlich verstörende – aber nie voyeuristische – Bilder aus Japan zustellen konnte. "Minamata" endet mit der ernüchternden Feststellung, dass die publizistisch angestoßene Entschädigung seitens der Verantwortlichen später wieder zurückgefahren wurde. Und im Nachspann wird eine ganze Reihe von Umweltkatastrophen aufgezählt, bei denen es ähnlich lief: Die Opfer werden vergessen, die Täter kommen davon.
"Hidden Away" erzählt vom Künstler Antonio Ligabue
Um Sichtbarkeit geht es auch in Giorgio Dirittis italienischen Wettbewerbsbeitrag "Volevo Nascondermi" ("Hidden Away"), was sich mit "Ich wollte mich verstecken" übersetzen lässt. Die wahre Geschichte des autodidaktischen Künstlers Antonio Ligabue (1899-1965) beginnt mit der Einstellung von einem Mantel, aus dem das Auge des scheuen und zugleich lebens- und bildhungrigen Protagonisten hervorlugt.
Toni, der Jahre bitterer Armut am Ufer des Po oder in psychiatrischen Anstalten zugebracht hat, will nicht gesehen werden. Weil das bedeutet, examiniert, verlacht, sogar für lebensunwert gehalten zu werden. Die erste halbe Stunden des Films erzählt unchronologisch gestückelt seinen Leidensweg, bis es bergauf geht für Toni. Er wird als Künstler erkannt und gefördert, findet Freunde, der filmische Rhythmus fließt in ruhigere Bahnen.
Heute zählt Ligabue zu den wichtigsten Künstlern der italienischen Art brut, seine Gemälde erinnern teils an Henri Rousseau, teils lodert aus ihnen der flammenden Gestus eines Vincent van Gogh. Beide Künstler dürfte Ligabue nicht gekannt haben. Die Geschichte vom Außenseiter, in dem ungeahnte (kreative) Kräfte stecken, wurde schon oft erzählt, war aber selten von so viel Empathie erfüllt wie in Dirittis Drama. Das liegt einmal an der Art und Weise, wie sich Elio Germano die Figur des verwahrlosten, linkischen Narren zu eigen macht. Man spürt, dass ihn der Argwohn nie ganz loslässt, die Leute könnten es nicht gut mit ihm meinen.
Auf eindringliche Weise nimmt der Film die Perspektive der Hauptfigur ein. Wie Toni in blinder Wut seine Werke zerstört, wenn Kritik daran geäußert wird. Wie er sich eine Liebesnacht erträumt, bei der die Geliebte auf dem Bett von einem üppigen Büffett von Brathühnern und Kuchen umrahmt ist. Und dann die Vision des Schlaganfall-Patienten im Hospiz: Tonis Bildhauerfreund bekleistert sein Gesicht mit Gips, um eine Totenmaske von ihm anzufertigen, dieses Bild raubt auch dem Kinozuschauer den Atem. Ein auf raue Weise schöner, ehrlicher Film, den die Berlinale-Jury kaum ignorieren kann.