Die front row weinte regelmäßig. Seine Schauen waren so kraftvolle Inszenierungen, dass sie Moderedakteuren Tränen in die Augen trieben. Und seine Entwürfe waren in der Tat das, was von Kleidern vielleicht ein wenig zu oft behauptet wird: Kunstwerke, die Schockwellen auszulösen imstande sind. Alexander McQueen war als Designer eine Ausnahmeerscheinung, wenn auch eine tragische.
McQueen, der 1969 in London als jüngstes von sechs Kindern einer Lehrerin und eines schottischen Taxifahrers zur Welt kam, wusste mit sechs, dass er schwul war, und ungefähr zur selben Zeit, dass er Mode machen wollte. Mit 16 begann er eine Ausbildung bei einem der traditionsreichen Schneider in der Savile Row, wo er das Handwerk und die Präzision lernte, für die er später bekannt werden sollte.
Aber McQueen war immer auch Konzeptualist, dessen Mode ganze Geschichten erzählen konnte über Wut, Melancholie oder Romantik. Seine Abschlusskollektion am Central Saint Martins College hieß "Jack the Ripper Stalks His Victims". Darin hatte der damals 23-Jährige seine Faszination für die Viktorianische Zeit verarbeitet und in jedes Kleidungsstück ein menschliches Haar eingenäht.
Die Haute-Couture-Sammlerin Isabella Blow kaufte die gesamte Kollektion auf. Sie wurde McQueens Förderin und wirkte daran mit, dass ihn das französische Haus Givenchy 1996 zum Chefdesigner ernannte.
Für sein eigenes Label ließ McQueen das Kleid eines sich auf einer drehenden Plattform stehenden Models von Roboterarmen mit Farbe besprühen, das Publikum seiner Shows sich selbst im Spiegelkabinett einer Nervenklinik betrachten und Kate Moss als Hologramm in einem Wasserfall aus Organza-Rüschen aufscheinen. Selbst die Videos seiner Laufsteginszenierungen verschaffen einem eine veritable Gänsehaut. Und das weniger, weil er den glitzernden Totenkopf in die Mode einführte, der bis heute eher prolligen Artikeln Rock-’n’-Roll-Flair verleihen soll, sondern weil sich McQueen immer die großen Themen vornahm: Leben und Tod, Mensch und Maschine, Raubtier und Beute.
Vor zehn Jahren, am 11. Februar 2010, erhängte sich McQueen, der an Angstattacken, Depressionen und unter dem Krebstod seiner Mutter litt, gerade 40-jährig. Etwas mehr als ein Jahr später organisierte das New Yorker Metropolitan Museum (Met) eine Ausstellung, darauf basierend 2015 das Londoner Victoria & Albert Museum. "Savage Beauty" zeigte mehr als 200 seiner bestürzend schönen, oft extrem aufwendigen und manchmal verstörenden Ensembles und Accessoires: ein dramatisches Kleid aus rot gefärbten Straußenfedern, ein Korsett, an dessen Rückseite sich eine metallene Wirbelsäule windet, Armadillo-Stiefel, die mit ihrem grotesk nach oben gewölbten Schaft und hohen Absätzen aussehen wie Hufe.
Mit 660 000 Besuchern war "Savage Beauty" die bis dato erfolgreichste Schau des Met überhaupt. Doch zog sie den Vorwurf der Kritiklosigkeit auf sich. Wenn man McQueen als Künstler behandle, hieß es, solle man seine Arbeiten nicht vorbehaltlos feiern. Zum Beispiel diese: Für seine Herbst/Winter-Kollektion ließ er 1995 Models mit aufgeschminkten Verletzungen und in Schritt und der Brustgegend zerfetzten Kleidern buchstäblich über den Runway stolpern. Der Titel der Kollektion "Highland Rape" spielte dabei laut dem Designer auf die Vertreibung und Ermordung schottischer Highland-Bewohner durch britische Truppen im 18. und 19. Jahrhundert und die kulturelle Ausbeutung Schottlands an.
Auf den Vorwurf, er sei misogyn und objektiviere Frauen, erwiderte McQueen, er tue das lediglich, um zu zeigen, wie die Gesellschaft mit Frauen umgehe. Es war spätestens diese Kollektion, die ihn einem großen Publikum bekannt machte und ihm den Titel "Hooligan der englischen Mode" verschaffte. Was insofern irreführend war, weil es sich bei McQueen um einen überaus empfindsamen Menschen handelte. Er fehlt, auch zehn Jahre nach seinem Tod.