Ohne Augmented Reality kommt heute kaum noch ein Museum aus. Das hat sich offenbar auch in kirchlichen Kreisen rumgesprochen, wie man gerade im belgischen Flandern sehen kann. Anlass ist die diesjährige Rückkehr des größtenteils restaurierten Genter Altars in die St.-Bavo-Kathedrale. Flankiert wird sie von einem neuen Eingangszentrum, das im Oktober seine Türen öffnet. Grund genug, um spätestens dann mit dem Angebot von VR-Brillen zu punkten. Sie sollen den Besucher auf eine Reise ins Spätmittelalter schicken und zum Tête-à-Tête mit dem sichtlich veränderten Lamm Gottes einladen, das stellvertretend für Jesus Christus sein Gegenüber hypnotisch fixiert.
Seit jeher probierten Myriaden von Restauratoren ihre Fertigkeiten an dem 600 Jahre alten Meilenstein der Kunstgeschichte aus. Die jüngsten Versuche sorgten gar für Schlagzeilen, denn nach der Entfernung von Schmutz und der unzähligen Übermalungsschichten erwies sich das originale Lamm als ein gänzlich anderes: gesegnet mit überraschend menschlichen Zügen und einem Sinn für den interaktiven Blickkontakt - was in den sozialen Medien inzwischen manch einen belustigten Kommentar provozierte.
Produktwerdung einer Legende
Ihre Feierlaune lassen sich die Genter trotzdem nicht verderben, schließlich wurde das mit Attraktionen vollgespickte Themenjahr "OMG! Van Eyck war hier" von langer Hand geplant. Das Oh-my-God-Angebot reicht von van Eyck für Foodies, inklusive eigens kreierten Pralinen, bis zu dem Meister nachempfundenen Farbexkursionen im Design Museum. Van Eyck und die unvermeidliche Street Art, gefolgt von Musik-Events, allen voran einer Welturaufführung des Komponisten Arvo Pärt. Kritische Zeitgenossen, die der Produktwerdung einer Legende nichts abgewinnen können, müssen tapfer bleiben, zumal auch die spärlich beteiligte Gegenwartskunst etwas eingeschüchtert agiert.
Ob sich der Brite Mat Collishaw von dem Blut aufwischenden Industrieroboter der vergangenen Venedig-Biennale inspirieren ließ? In seiner digitalen Neuinterpretation des Genter Altars in der abgedunkelten St.-Nikolaus-Kirche lässt er zu chorischen Gesängen Roboterarme so lange mit den Tafeln jonglieren, bis ihnen die rätselhaft entrückte Aura entwichen ist. Sophie Kuijken begnügt sich mit einer Sammlung anonymer Modelle, aufgespürt im Internet und mittels der alten Maltechnik versetzt in die flämische Blütezeit der Gattung. Im Innern der Kathedrale fallen diese Echos kaum auf. Das gilt nicht für Kris Martins originalgetreu in Corten-Stahl nachgebauten "Altar". Der leere Rahmen ist vor dem Eingang platziert und funktioniert bestens als Sinnbild einer abwesenden Religion.
Eine prächtige Ausstellung
Wer nun fürchtet, trotz der überbordenden Mahlzeit hungrig zu bleiben, sollte den acht Originaltafeln in die prächtige Ausstellung "Van Eyck. Eine optische Revolution" ins Museum der Schönen Künste folgen. Sie haben erstmalig ihren angestammten Platz in der Kathedrale verlassen, um im Kontext des restlichen Werks von Jan, dem gewichtigeren der Brüder van Eyck, gezeigt zu werden. Auch wenn nicht alle seiner Meisterwerke ausgeliehen werden konnten, ist vor allem der den Porträts gewidmeter Saal purer Genuss. Van Eyck malte Freunde und Bekannte, seine Frau, einen Goldschmied. Der beinahe fotografische Realismus springt sofort ins Auge, mit allen Defiziten der Physiognomien und charakterlichen Eigenheiten. Das kunstvoll eingesetzte Licht führt auf den Perlen und Rüstungen ein Eigenleben.
Nur Adam und Eva sind in ihrer Nacktheit ausgeschlossen vom Wettbewerb um Reichtum und Status. Sie wirken ohne die liturgische Funktion tatsächlich wie zwei Vertriebene, zum Glück diesmal nicht für die Ewigkeit, denn nach Ende dieses einmaligen Blockbusters sollen sie nie wieder im musealen Rahmen gezeigt werden. Ein profanes Fortleben gibt es dann nur noch im Roboter-Paradies.