Ende der Venedig-Biennale

Die ewige Finissage

In der Kunst hat gerade die Endzeit-Stimmung Konjunktur. Was könnte also passender sein, als bei schwerem Hochwasser in Venedig die Biennale zu beenden und Teil der Closing Performance von Solange zu werden? Ein Erfahrungsbericht

Wenn die Deadlines so zahlreich vor der Tür stehen wie Wohnungs-Interessentinnen in Berlin, dann schmuggelt man sich am besten aus dem Haus, setzt sich ins Kaffeehaus und bespricht alibihalber irgendwelche neuen Groß-Projekte, wie so eine windige Geschäftsfrau, die glaubt das Schneeballsystem könne man auch auf die Zeit anwenden. Eine schlecht gefakte Oligarchin vom verschuldeten Königreich Kronos. Oder man steigt in den nächsten Nachtzug nach Venedig, ohne Laptop oder Arbeitszeugs versteht sich, am besten während Hochwasser, um dort mit mindestens drei Stunden Verspätung anzukommen und am letzten Öffnungstag durch die nicht gefluteten Pavillons der Biennale zu eilen.

Ich habe noch nie eine Reise nach Venedig erlebt, bei der irgendwas nach Plan lief. Vor circa 20 Jahren war ich zur selben Jahreszeit bei Acqua Alta dort, damals um mir ein Konzert von Blixa Bargeld in einem Theater am Fondamente Nove anzuschauen. Ich verpasste danach den letzten Zug zurück nach Wien und verbrachte die Nacht bei einem Carabiniere auf der Couch. Was gibt es wohl diesmal für interessante last minute Programmänderungen?

Ein Wochenende zuvor war Rekord-Hochwasser in Venedig. Ich nehme also doch noch mein einziges Paar Gummistiefel mit, das ich in Münster zu den verregneten Skulpturprojekten 2006 gekauft und dort zum ersten und letzten Mal getragen habe. Sie sind ziemlich hässlich, aber es wird nicht anders gehen, und es ist ja nicht die schicke Preview. Kurz habe ich mich auch noch für wahnsinnig originell gehalten mit dieser zugegebenermaßen nicht ganz wasserdichten "FOMO-Immunität" (haha, Biennale verpasst! Naja, halt nur fast...). Ich sah mich schon kapitalismuskritische Memes aus Fotos von hüfthoch im Wasser stehenden Touristen basteln, die Louis-Vuitton-Sackerl tragen.

Closing Performances sind das neue Ding

Im Zug treffe ich zufällig eine andere Künstlerin, Ursula Mayer, die auch kurzfristig aufgebrochen ist und offenbar nichts von einem neuerlichen Hochwasser gehört hatte. Sie trägt Lederschuhe mit Absatz. Wir sind schon einige Zeit unterwegs, als jemand unter meine Frage auf Facebook, was man denn Biennale-mäßig anschauen soll, einen Artikel über die kurzfristig angekündigte spezielle Closing Performance von Solange Knowles als Kommentar postet. Ich wusste gar nicht, dass die jetzt auch Kunst macht.

Statt verlorenem Gepäck und gestrichenen Zügen könnte ich mich mit einer neuen Dimension venezianischer Überraschungen durchaus anfreunden. Ein halbes Jahr lang kennt man jetzt schon die Bilder der Biennale von Social Media, und ich komme mit diesen Eindrücken aus zweiter und dritter Hand, einer Auswahl rausgefilterter Highlights mit Themenschwerpunkten Klimawandel und Tourismus (Goldener Löwe für Litauen) im Kopf an. Closing Performances sind anscheinend ein neues Ding, habe ich mir sagen lassen. In einer Zeit, die von Umwelt-Katastrophenszenarien, und - wie der FPÖ-Politiker Norbert Hofer die grünen Bewegungen kürzlich nannte - einer angeblichen "Zöpferldiktatur" und "Weltuntergangssekte" geprägt ist, macht sich auch in der Kunstwelt langsam eine Emphase auf das "Schluss, Aus, Ende" bemerkbar.

Man sollte überhaupt vielleicht nur mehr Finissagen machen. Mit der Apokalypse im Hintergrund wirkt vieles sofort bedeutungsvoller. Wie wenn man sich verliebt, weil man zusammen eine Katastrophe erlebt hat. Und Venedig, wo Bedrohung und Untergang ja schon immer Teil des Ganzen waren, das hat was von der Dynamik einer Affäre, wo sich der Reiz aus der potenziellen Gefahr und dem Uneingelösten speist. Die sehnsuchtsvolle Ausstrahlung verstärkt die ewige Anziehungskraft der entrückten Traum-Stadt. "Bei Verführungen wird eine Gefahr immer simuliert, sie wird als Information gesetzt, aber sie wird nicht tatsächlich", schrieb der Astrologe Wolfgang Döbereiner.

In der Schlange mit den begossenen Kunst-Pudeln

Mit meinen westfälischen Brachial-Stiefeln in pädagogischen Tchibo-Farben kann ich mich leider nicht unter die elegant gekleideten und dezent bestiefelten Venezianerinnen mischen. Immerhin haben wir keine von diesen neonfarbenen kniehohen Plastiksack-Schuh-Überziehern mit „I ♥ Venezia“-Aufdruck, mit denen hier die Touristen herumlaufen wie in einer ravigen Freiluft-Quarantäne.

Ursula sagt, sie würde sich jetzt demnächst Wellington Boots zulegen, für einen "Hailey-Baldwin-auf-einem-Festival"-Look. Überhaupt lassen wir nun öfter den Begriff Wellington Boots fallen, wahrscheinlich weil es jetzt stärker anfängt zu regnen. So, als wären diese Wörter unsere tragbare Sound-Dusche, die uns von unserer reisebedingten Miefigkeit ein wenig entlasten könnte. Irgendwo verlieren wir uns, als Ursula im Biennalen-Endzeit-Gedränge eine griechische Performance-Künstlerin trifft. Ich mache mich allein auf den Weg zum Teatro alla Tese, das - wie passend - ganz hinten am Ende des Arsenale liegt. Dort soll diese unbetitelte Performance von Solange stattfinden. Dort biegt sich eine Schlange von Regenschirm-Menschen ums Eck. Die Situation wirkt konspirativ und wichtig, und so stelle ich mich ohne Nachfragen dazu.

Nach einem fast ganz durchgehörten Requiem (Verdi) mit Kopfhörern im Regen (wie romantisch) kommt Ursula ums Eck und drängelt stilvoll vor. Dann geht’s los. Wir sind unter den ersten 120 begossenen Kunst-Pudeln, die reinkommen und werden im Foyer vor einen schwarzen Vorhang geführt. Dort gibt es ein paar Anweisungen: keine Fotos, keine Videos, bitte in Bewegung bleiben, nicht hinter die Bühne gehen, nicht hinsetzen. Im Online-Ankündigungstext wurde dem Publikum auch nahegelegt, am besten schwarz gekleidet zu erscheinen.

Das mit "Stars" und der Kunst bringt Missverständnisse hervor

Zumindest in mir lassen alle diese ausgegebenen Koordinaten zusammen ein etwas mulmiges Gefühl entstehen: Wie arg exponiert wird man wohl als Publikum zum Teil der Show, so à la Jay-Z, als er 2013 sein Musikvideo für "Picasso Baby (A Performance Art Film)" in einer New Yorker Galerie unter Mitwirkung ausgewählter Besucherinnen und Besucher gedreht hat? Wie super gut drauf und excited muss man sich geben? Und was hat es überhaupt damit auf sich, als Kunst-Öffentlichkeit nochmal extra inszeniert zu werden, also das, was man ja eh schon ist, wenn Solange jetzt auch als bildende Künstlerin wahrgenommen werden möchte.

Das ist ja ein bislang unter Stars der Unterhaltungsindustrie nicht unbedingt geglücktes Unterfangen, man denke nur an James Franco als Fotokünstler. Das mit "Stars" und der Kunst bringt seit Warhol oft einige Missverständnisse hervor. Dass Solanges bisherige Performances ausschließlich in wichtigen Museen mit fotogenen Architekturen passierten, denkt man – sorry für die Sippenhaft – natürlich an Bezugspunkte wie Jay-Z und Beyoncé im Louvre. Und die Orte lenken den Fokus zuerst auf das Thema der Mechanismen von Inklusion und Exklusion, die solche (weißen) Institutionen gegenüber black culture anwenden.

Aber zurück zum Publikum. Auf Fotos ihrer Performance im Guggenheim Museum 2017 sieht man dieses, wie gefordert, weiß gekleidet, und auch kürzlich im Getty Museum spielten alle bei dieser Inszenierung mit - zumindest sieht es auf den Bildern ganz danach aus.

 


In Venedig läuft es nun nicht so ganz nach Plan: Das Publikum trottet größtenteils unglamourös zusammengewürfelt in Funktionskleidung, ohne erkennbare Farbkoordination, nach einem langen Tag voller Ausstellungen vom Wetter gezeichnet, müde und müffelnd in den unbestuhlten Raum. Die Menge macht keine Anstalten, etwas anderes als klassische Zuseher sein zu wollen. Vereinzelt setzen sich Leute, die die Ansage davor offensichtlich nicht gehört hatten, auf den Boden.

Die Bühne in dem alten Mehrzwecksaal mit seiner nautischen Patina ist ein einfacher brauner Teppich in der Mitte ohne Erhöhung. Es wirkt, als würde Solange ihre Ernsthaftigkeit als Künstlerin auf eine Art unterstreichen wollen, wie große Bands ab und zu wieder exklusive Club-Gigs spielen. An den Rändern der rechteckigen Fläche, quasi als Begrenzung verteilt, stehen die Musiker mit Instrumenten (zwei Blasinstrumente, Schlagzeug, Keyboards, Gitarre oder Bass, weiß ich nicht mehr so genau), weitere Performerinnen sind auf schwarzen Bänken in stilisierten Sitz-Posen, Rücken zum Publikum, platziert. Unschwer als Referenz auf Vanessa Beecroft zu lesen.


In einem imaginären Bühnengraben umkreisen mehrere Kameraleute und Fotografen permanent das Geschehen. Man wird also von Profis dabei aufgenommen, wie man keine Handyfotos für Instagram machen darf, weil man present ist. Wie so eine Feedback-Schleife für Beobachten und Beobachtet-Werden, ein Burggraben der self-consciousness. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen Trikot-artige Outfits in unterschiedlichen Brauntönen (schätzungsweise vom hippen New Yorker Label Telfar?) und die Musiker jazzige Anzüge.

Ehrlich gesagt traue ich mich gar nicht so richtig, etwas über Solange als Künstlerin zu schreiben. Seit ihrer berühmtesten Performance damals im Lift, als die während der Met Gala 2014 auf Jay-Z losging, verscherzt man es sich bekanntermaßen lieber nicht mit ihr. So einen Auszucker von ihr bekommen wir am Ende unter Schlagzeug-Solo auch vorgetanzt. Ansonsten agiert Solange großteils aus dem Abseits, oft aktiv zusehend, mehr Regisseurin oder Coach. Sollte da etwas improvisiert gewesen sein, dann habe zumindest ich es nicht bemerkt. Manche Kostüme waren extra mit ein paar Schaumstoff-Ausbuchtungen verformt - irgendwie ein gutes Symbol für dieses Auffahren von so viel Virtuosität und Professionalismus. Aus den vermeintlichen Ecken und Kanten aus so vielen Bereichen auf einmal -Tanz, Musik, Mode - soll eine neue Architektur geschaffen werden.

Aber: "The house that we built could crumble at any time". Dieser Satz aus dem Stück kommt immer wieder vor. Im Getty Museum wären es die Flammen, die einen umzingeln, in Venedig die Fluten. Bei dieser Affäre mit der Kunst muss das Ende immer nahe sein.