"Don’t you know that you’re toxic?", fragt Britney Spears in ihrem Hit "Toxic" von 2003 noch als harmlose Metapher für sexuelle Anziehung. 16 Jahre später – im "viralen Zeitalter" – ist die Metapher des Gifts und die Gefahren seiner Ausbreitung und Ansteckung präsenter denn je im politischen, populärkulturellen, gesellschaftlichen und künstlerischen Diskurs. "Toxic Art Histories" lautete nun auch der Titel eines Workshop des kunsthistorischen Forschungsverbundes "Bilderfahrzeuge. Aby Warburg’s Legacy and the Future of Iconology" an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ein trendgeschuldetes Aufspringen auf den "Toxicity"-Zug oder kann (Kunst-)Geschichte etwa tatsächlich toxisch sein?
Man könnte fragen: Ist es nicht die Aufgabe einer historischen Disziplin, Fakten über die Vergangenheit zusammenzutragen und, textlich aufbereitet, zukünftigen Generationen verfügbar zu machen? Wie soll eine Ansammlung von Fakten giftig sein? Im Kern dieser Fragen steht die Annahme einer interesselosen, einer universellen Wissenschaft, der Glauben an eine zuverlässige Objektivität und die Wissenschaft als ihre Agentin – diese Grundannahme bröckelte bereits zu Britneys Zeiten und hat sich – wie beispielsweise das gegenwärtig beliebte Begriffspaar "Fake News" zeigt – in Luft aufgelöst.
Bilderfahrzeuge mit toxischen Abgasen
Die kritische Untersuchung der Produktionsbedingungen der Geschichtsschreibung legt offen: Sie ist eben nicht eine Aneinanderreihung von Fakten, sondern ein selektiver, machtvoller, subjektiver Prozess, der Erzählungen der Gegenwart und Zukunft formt. Je nachdem, wer wann an welchem Ort aus welchem Milieu mit welchen Interessen, Prämissen und individuellen wie gesellschaftlichen Bedingungen über Geschichte schreibt, wird eine eigene, spezifische Färbung der historischen Begebenheit vornehmen. Und gerade die dabei stets behauptete Objektivität macht aus diesen subjektiven Einschätzungen machtvolle Imperative.
Gerade postkoloniale und feministische Denkerinnen und Denker fordern aus diesem Grund, dass die Perspektive, aus der Historiografie bis jetzt betrieben wurde – nämlich aus weiß-männlich-bürgerlicher – markiert und damit anerkannt wird, dass wir es hier nicht mit universellen Wahrheiten, sondern mit kulturell geformten Ansichten zu tun haben. Auch dem Forschungsverbund der “Bilderfahrzeuge” scheint das klargeworden zu sein: Man will versuchen, die "toxischen" Elemente der eigenen Disziplin zu benennen, zu markieren und operativ zu entfernen.
Ein nobles Unterfangen als Rohrkrepierer
Ein nobles Unterfangen – allerdings eines, das bereits am ersten Tag des Workshops zum Rohrkrepierer zu werden droht. Denn als "toxisch" werden in den Diskussionen ausgerechnet gerade postkoloniale Debatten sowie Kritik am Eurozentrismus (zeitweise sogar als Nörgelei karikiert) verstanden. Das wahrhafte "Gift" der Kunstgeschichtsschreibung sollen ausgerechnet postkoloniale Theorien sein?
Eine solch haarsträubende Verkehrung der Verhältnisse bedarf näherer Betrachtung und offenbart schon rasch grundlegend problematische Prämissen: Erstens werden dabei postkoloniale Debatten auf Identitätsfragen reduziert. Das Missverständnis lautet dabei, dass die als monolithisch verstandene postkoloniale Theorie verlange, dass die "alten weißen Männer" nur noch über Kunst von "alten weißen Männern" sprechen dürfen – womit man schnell bei der Beschwörung eines "Sprechverbots" landet und damit gefährlich nah an tatsächlich vergifteten rhetorischen Strategien des Selbstmitleids.
Unbegründete Paranoia
Offensichtlich fürchten einige "Chefitäten" der Kunstgeschichte eine Einschränkung ihres Reviers, eine Paranoia, die allerdings vollkommen unbegründet ist. Denn tatsächlich gestaltet sich der Diskurs viel komplexer und es gibt eine Vielzahl an Vorschlägen, wie mit der "Frage der Perspektive" umzugehen sei – diese Heteroginität der Debatte wird aber größtenteils unterschlagen. Man möchte fast aufstehen und den Junius-Band "Postkoloniale Theorien zur Einführung" verteilen und dazu auffordern, ebenjene postkoloniale Theorien mit derselben Aufmerksamkeit und Genauigkeit zu lesen, mit der man Erstsemestrigen die Lektüre von Adorno und Deleuze abverlangt. Aber eben nur fast, denn immerhin zeichnet sich in dem Saal ein Lichtblick ab: der wissenschaftliche Nachwuchs des Forschungsverbundes unternahm mehrmals den Versuch, freundlich und klug auf sein Unbehagen aufmerksam zu machen.
Die eigene Sprechposition zu reflektieren, Unwissenheit, Zweifel und Fehler zuzugeben, Privilegien aufgeben: Das ist nicht angenehm. Gerade nicht für diejenigen Silberrücken, die mit ihren Beiträgen die Kunstgeschichte nachhaltig geprägt haben und sich dabei immer nur ihrer allerbesten Absichten bewusst waren. Wie wir aber im letzten Vortrag des Workshops lernen, sind Absichten eben leider nicht genug; was zählt ist, wie Projekte durchgeführt werden, wie Thesen argumentiert und verteidigt werden und wie eine wissenschaftliche Disziplin gedenkt, sich in einer inklusiv imaginierten Zukunft aufzustellen.
Abführmittel vor der Detox-Kur
Es ist einfach nicht genug, sich zu einem komplexen und heiklen Thema um des Äußerns Willen zu äußern, wir haben die Aufgabe, uns mit den brennenden Fragen der kritischen Kunstgeschichtsschreibung zu beschäftigen: Wer hatte die Möglichkeit, überhaupt mit Kunst in Kontakt zu kommen? Wer konnte schreiben und lesen? Wem wurden bestimmte intellektuelle – oder künstlerische – Fähigkeiten zugetraut? Welche begrifflichen und theoretischen Rahmenbedingungen – "Aufklärung", "Moderne", "Kunst" – bildeten die Raster und Filter, unter denen gesammelt, geschrieben und geforscht wurde? Welche Objekte wurden in den kunsthistorischen Kanon aufgenommen und warum? Welche politischen und wirtschaftlichen Interessen sind einer Disziplin wie der Kunstgeschichte, gerade wenn sie sich selbst global und universell generiert, eingeschrieben? Wem wurde zugehört? Und, noch wichtiger: Wem eben nicht?
Das Zynische am augenscheinlichen Widerwillen einiger prominenter Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker ist, dass wir die genannten Fragen stellen wollen, gerade weil sie uns ausgebildet haben. Wir wurden von Denkerinnen und Denkern wie ihnen dazu angehalten, nichts als feste Setzung anzunehmen, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven und immer wieder neu zu betrachten. Wir stehen mit diesem Unterfangen mitunter in der Tradition derjenigen, die jetzt (nahezu paranoid) um die Legitimität ihres Lebenswerkes fürchten – und damit ihren eigenen Leistungen nicht gerecht werden.
In diesem Sinne wäre zu hoffen, dass eine Veranstaltung wie dieser Workshop vielmehr ein Startpunkt für eine Auseinandersetzung mit "toxischer" Kunstgeschichte ist, die auch die eigenen Prämissen in den Blick nimmt – jede Detox-Kur beginnt schließlich mit dem unvermeidlichen kathartischen Abführmittel.