Am 22. Juli 2011 ist in Norwegen etwas kaputt gegangen. Beim Anschlag des Rechtsterroristen Anders Behring Breivik auf das Osloer Regierungsviertel und ein sozialdemokratisches Jugendcamp gingen natürlich zuallererst 77 Menschenleben verloren, darunter sehr viele sehr junge Leben. Aber es wurde auch ein Grundvertrauen in die Sicherheit des kleinen familiären Staates Norwegen beschädigt. Und ein Wandteppich von Hannah Ryggen, der in einem Büro im bombenzerstörten Regierungsgebäude hing.
Die Geschichte dieses Teppichs ist noch nicht allzu oft erzählt worden, weil sie im Gegensatz zu den Toten und der landesweiten Trauer (jeder kennt jemanden, der jemanden kennt …) nachrangig erscheinen mag. Aber der zerrissene Teppich führt zu einer der interessantesten Künstlerinnen der norwegischen Moderne. Eine Künstlerin, die wie so viele wegweisende Frauen in der Kunst das Schicksal des Vergessenwerdens ereilt hat. Dieser Fehler wird wie so viele andere kunsthistorische blinde Flecken seit einigern Jahren langsam aufgearbeitet. Pünktlich zur Gastlandpräsenz Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse eröffnet in der Schirn nun die erste große Einzelausstellung von Hannah Ryggen in Deutschland.
Das Gegenteil der glamourösen Moderne
Die Künstlerin wurde 1894 im schwedischen Malmö geboren, nahm als Jugendliche privaten Malunterricht und zog 1924 mit ihrem Ehemann Hans ins norwegische Örtchen Ørland am Trondheimsfjord. Ihr Alltag dort war das Gegenteil der "Roaring Twenties" und des urbanen Avantgarde-Aufbruchs, den man meistens mit dem Begriff der Moderne verbindet.
Hannah und Hans Ryggen lebten als Selbstversorger auf einem abgelegenen Bauernhof ohne Strom und fließendes Wasser, ihr Webstuhl war hausgemacht, und auch das Weben und die Farbherstellung aus Naturstoffen brachte sich die Künstlerin selbst bei. Der Ammoniak aus Urin war dabei ein wichtiger Bestandteil des Färbeprozesses. Besucher durften gern ihre Spenden in Eimern hinterlassen.
Obwohl die Entstehung ihrer Kunst eher nach "Unserer kleinen Farm" als nach "Babylon Berlin" oder der glamourösen "Neuen Zeit" am Bauhaus klingt, haben Hannah Ryggens Teppich etwas schockierend Modernes. Die Formensprache ist reduziert und geometrisch wie bei den Bauhaus-Weberinnen, doch die Textilien der Norwegerin sind keine universell und gänzlich abstrakten Realitätsverweigerungen. Ihre Wandteppiche wirken eher wie gewebte Historiengemälde, auf denen Figuren zum Teil in komplexen Wimmelbildformationen angeordnet sind. Als hätte der Konstruktivismus ein Verhältnis mit Hieronymus Bosch angefangen.
Mussolini wird mit dem Pfeil aufgespießt
Obwohl sie aus Metropolen-Sicht am Ende der Welt lebte, fand sich die politische Wirklichkeit in ihrer Kunst wieder. Auf den Teppichen tauchen Hitler und Churchhill auf, Mussolini bekommt – ganz postkolonial – von einem äthiopischen Freiheitskämpfer einen Pfeil durch den Kopf. Die gewebten Anti-Kriegs-Manifeste erinnern in ihrer Intensität zuweilen an Otto Dix, aber sie sind formal nüchterner und weniger grotesk. Hannah Ryggen abstrahiert eher, als dass sie verzerrt. Aber die leuchtenden Farben und die wuchtigen Figuren machen ihre Arbeiten aus grober Wolle eindrücklich wie ein Gemälde. Als ihr Alptraum wahr wird und die Deutschen 1940 in Norwegen einmarschieren, verkriecht sie sich nicht in die innere Emigration wie zum Beispiel ihr Künstlerkollege Edvard Munch. Demonstrativ hängt sie ihre Anti-Nazi-Teppiche draußen auf ihrem Hof wie Flaggen auf.
Die ungewöhnliche Kombination aus traditionellen ländlichen Handwerkstechniken, antifaschister Botschaft und moderner Formensprache blieb auch zu Lebzeiten nicht unbeachtet. Hannah Ryggen ist kein übersehenes Genie, das Van-Gogh-haft erst posthum entdeckt wird. Sie bekam internationale Aufträge für Teppiche und war 1962 die erste Frau, die Norwegen auf der Biennale in Venedig vertrat. Dass ihr Werk "Vi lever på en stjerne" (Wir leben auf einem Stern) von 1958 ins Regierungsgebäude gehängt wurde, ist ein weiterer Beweis für die Wertschätzung ihrer Kunst.
Das Problem lag, wie so oft bei bildenden Künstlerinnen, beim Umzug vom künstlerischen Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Nach ihrem Tod 1970 verblasste auch die Erinnerung an Hannah Ryggen und ihr stures Anweben gegen die Grausamkeiten der Welt.
Doppelte Ironie der Geschichte
Es ist die Ironie der Geschichte, dass das Werk der antifaschistischen Künstlerin ausgerechnet von einem Rechtsterroristen beschädigt wurde. Und genauso ironisch ist, dass gerade die Katastrophe das Interesse an Hannah Ryggen wieder geweckt hat. Carolyn Christov-Bakargiev zeigte den beschädigten Teppich als "traumatisiertes Objekt" auf der Documenta 13 in Kassel, es folgten Einzelausstellungen in Stockholm und Oxford und nun die große Schau in der Schirn unter dem Titel "Gewebte Manifeste".
Der textile Terrorzeuge "Vi lever på en stjerne", der ein umschlungenes Adam-und-Eva-ähnliches Paar in einem abstrakten Universum zeigt, wird ebenfalls in Frankfurt hängen. Er ist eins der optimistischsten Werk von Hannah Ryggen in tiefen Blau- und Rottönen. Es geht um Schöpfung, den Lebenszyklus und die Liebe. Inzwischen sind die Schäden vom 22. Juli 2011 einfühlsam repariert worden, so, dass die Nähte sichtbar bleiben. Das Universum ist nicht zerbrochen, aber die Narben der Vergangenheit sind immer noch da. Es schadet nicht, sich immer wieder daran zu erinnern.