Marianne Strobl war eine der ersten Industriefotografinnen in Österreich. Ihre Bilder, die uns heute Einblicke in das Leben und Arbeiten in der k. u. k.-Monarchie um 1900 ermöglichen, waren jedoch lange Zeit unter Verschluss und wurden erst kürzlich wiederentdeckt. Was auch daran liegt, dass die Industriefotografin in dem von Männern dominierten Metier eine Seltenheit war. Die Kenntnis über Strobls fotografische Arbeit beschränkt auf die Jahre 1894 bis 1914. Nach dem Ersten Weltkrieg gebe es keine Daten mehr über die Fotografin, die lange Zeit in Wien ein Fotostudio unter dem Kürzel "M. Strobl. Industrie-Photograph" betrieb.
Nun sind Strobls fotografische Dokumentationen des industriellen Lebens während der österreichisch-ungarischen Realunion im Verborgenen Museum in Berlin zu sehen, das auf vergessene Künstlerinnen spezialisiert ist. Ulrike Matzer, die Kuratorin der Ausstellung, wurde in diesem Jahr an der Wiener Akademie der bildenden Künste mit einer Dissertation über das Leben der 1865 in Schlesien geborenen Marianne Strobl promoviert. Ihre Arbeit ist die Grundlage für die begleitende Publikation.
"Erste Industriefotografin der k. u. k.-Monarchie"
Seit der industriellen Revolution hat sich das Leben in den Städten stark verändert. In der österreichischen Hauptstadt Wien war dies durch den Ausbau der Stadtbahn, der Hochquellleitung und der Kanalisation zu spüren. Distanzen wurden verkürzt, Produktionsprozesse beschleunigt und der Tourismus nahm zu. Grandhotels und Luxus-Restaurants eröffneten, Weinkellereien vergrößerten sich und Handelsbeziehungen wurden verstärkt. Umstrukturierende Stadtplanungen für wachsende Einwohnerzahlen und die Neugestaltungen von Promenaden wie der Wienzeile folgten. Marianna Strobl dokumentierte diese Veränderungen als "erste Industriefotografin der k. u. k.-Monarchie".
Als Zeugnisse einer Zeit im Aufschwung laden Strobls Aufnahmen darüber hinaus ein, über aktuelle Veränderungen in der österreichischen Stadtplanung nachzudenken. Marianne Strobls Fotografie "Perrondach-Construction in der Haltestelle 'Praterstern', der Wiener Stadtbahn" zeigt die Station im Jahr 1898. Die Handschrift des Wiener Stadtplaners und Architekten Otto Wagner ist klar erkennbar, ebenso das bekannte Wiener Riesenrad im Vergnügungspark Wurstelprater, das sich im Hintergrund in der lichten Wolkendecke auszuruhen scheint. Ein paar Menschen warten am Bahnsteig auf die Stadtbahn, die sie an ihre Wunschdestination bringen soll. Strobl legte den Fokus auf das Dach, das die Wartenden vor Regen, Schnee und Sonne schützt.
Der Wiener Praterstern ist heute nicht nur ein starkfrequentierter Bahnhof, sondern ein vieldiskutierter "öffentlicher" Platz in Wien. Als Stätte touristischen Vergnügens und nächtlicher Feierei, doch vor allem als Sinnbild der Gentrifizierung, der Vertreibung obdachloser und alkoholabhängiger Menschen aus dem Stadtzentrum, wird der Praterstern mehr und mehr Protagonist künstlerischer Aneignungen, die der rechtspopulistischen Panikmache ein linksaktivistisches Statement entgegensetzen möchten.
Praterstern als "Wohnzimmer ohne Dach" und ohne Wein?
Innerhalb weniger Jahre soll der Praterstern "lebenswerter" und "sicherer" werden. Die Stadt Wien hat dazu im April 2018 bereits ein umstrittenes Alkoholverbot umgesetzt, jetzt folgt sukzessive die optische Aufwertung. In einem Interview mit der österreichischen Gratis-Tageszeitung "Heute" am 15. Juli erzählte der Pratersternkoordinator und Raumplaner Paul Oblak, dass er den Platz zu einem "Wohnzimmer ohne Dach" umfunktionieren wolle.
Bei seiner Ernennung zum Koordinator durch den Wiener Bürgermeister Michael Ludwig im vergangenen Jahr betonte Oblak, dass es ihm vorrangig um die Verbesserung der Aufenthaltsqualität gehe. Aber auch, dass "die Funktionalität eines hochfrequentierten Verkehrsknotenpunktes erhalten bleibt. Dafür sind nun weitere bauliche und technische Maßnahmen zu treffen."
Für den französischen Soziologen Henri Lefèbvre habe jeder Mensch ein Recht auf Stadt und Zentralität. Wenn jedoch Maßnahmen wie Alkoholverbote getroffen werden, die langfristig bewirken, dass bestimmte marginalisierte Subalterne aus dem zentralen "öffentlichen" Raum verdrängt werden, stellt sich die Frage, für wen der Praterstern zum Wohnzimmer werden soll.
Nicht, dass man in einem wohnzimmerähnlichen Aufenthaltsraum unbedingt alkoholische Getränke zu sich nehmen müsste, aber ganz so scheinheilig ist das Alkoholverbot auch nicht. Die mit dem Verbot und der Umgestaltung einhergehende Verdrängung alkoholabhängiger und obdachloser Menschen vom Praterstern ist für die Koordinatoren wohl einkalkuliert. Der Praterstern wird so zum Wohnzimmer für alle, die kein Dach benötigen.