Die von "Vogue"-Chefredakteurin Anna Wintour ausgerichtete Met Gala kann man getrost als Superbowl der Modewelt bezeichnen. Anlässlich der Benefizveranstaltung laufen alljährlich die berühmtesten Personen der USA über den roten Teppich vor dem New Yorker Metropolitan Museum of Art – aufs Schickste eingehüllt in Sonderanfertigungen und Archiv-Entwürfe der einflussreichsten internationalen Modehäuser. Theoretisch gesehen ist die Veranstaltung eine elaborierte Vernissage, bei der die geladenen Gäste vor dem gesetzten Dinner einen exklusiven Einblick in die neue Ausstellung des Metropolitan-Kostüminstituts erhalten. Praktisch aber interessiert die Ausstellung an diesem Abend vor allem aus einem Grund: Das Thema, mit dem sie sich beschäftigt, ist gleichzeitig das Motto, nach dem sich die geladenen Gäste zu kleiden haben. Nachdem es in den Vorjahren bereits um Punk, Superhelden und – abgesegnet vom Vatikan – um katholische Ästhetik ging, setzt sich die Ausstellung in diesem Jahr mit Camp auseinander.
Kein Camp ohne Susan Sontag
Camp ist ein ästhetisches Konzept, das sich schwer auf den Punkt bringen lässt. Die berühmteste Definition liefert Susan Sontag in ihren "Notes on Camp", die sage und schreibe 58 skizzenhafte Darlegungen des Begriffs umfassen. Das charakteristischste am Camp, so Sontag, ist die Affinität zum Artifiziellen, zur widernatürlichen Übertreibung. Camp setzt die Dinge in Anführungszeichen, Camp ist ein überbordendes So-Tun-als-ob, Camp ist vulgär, Camp ist die Liebe zu überzeichneten Charakteren, Camp meint es mit dem Frivolen todernst und strotzt selbst in der höchsten Selbstparodie noch vor Eigenliebe. Vielleicht machen einige Beispiele die Sache klarer: Jeremy Scotts von Schokoriegelverpackungen und Barbiepuppen inspirierte Entwürfe für Moschino, Jackie Kennedys Cousine Little Edie, Lady Gagas Auftritt bei den Video Music Awards in einem Kleid aus Fleisch, das exzentrische Auftreten der Filmikone Mae West: das alles ist Camp.
Die Stilrichtung ist eng mit Performativität verbunden, weshalb sie besonders häufig in Mode, Film und darstellender Kunst anzutreffen ist. In der Kunstwelt vertreten wird Camp unter anderem durch Performance-Künstler und David Bowies Kostümdesigner Leigh Bowery, durch Brice Dellsperger, der ohnehin schon theatralische Szenen aus Kultfilmen noch theatralischer nachspielt und durch Ryan Trecartin, der in seinen Videos den Exhibitionismus des Reality-TV-Zeitalters auf unerträglich hohe Lautstärke dreht.
Wenn es in der jüngeren Geschichte allerdings eine Person gab, die Camp verkörperte wie keine andere, dann war es die Dragqueen Divine, die Muse des ebenfalls dem Camp verschriebenen Filmemachers John Waters, dessen Filme alle Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. Divine war schmutzig und laut, sie wurde in Waters "Pink Flamingos" zum Underground-Star und spielte später an der Seite von Johnny Depp in der Musical-Parodie "Cry-Baby".
Der Sonnenkönig als Fashion-Ikone
In ihrer kulturellen Analyse geht Susan Sontag weit in der Zeit zurück und nennt unter anderem den Sonnenkönig Ludwig XIV., der am Hof die absurdesten Rituale institutionalisierte, als wegweisende Figur des Camp. Der Versailles-Begründer legte mit seiner pompöse Affektiertheit ein Auftreten an den Tag, das den Genderrollen seiner Zeit zuwider ging. Auf ähnliche Weise hinterfragte Mae West gesellschaftliche Erwartungshaltungen, indem sie sich so verhielt, wie es sonst nur Männer taten, die Frauen nachahmten. Damit wurde sie zu einer weiblichen Performerin, die Weiblichkeit als Drag-Kostüm trug.
Jenes queere Spiel mit Geschlechterzuschreibungen und Rollenbildern zieht sich durch die Geschichte des Camp und wurde von marginalisierten Subkulturen immer wieder als Instrument der Selbstermächtigung genutzt. Die Drag- und Ballroom-Szene sind ebenso Camp-affin wie die Entwürfe des Modedesigners Dapper Dan, der – Jahrzehnte bevor Streetwear den Mainstream erreichte – Jogginganzüge und Bomberjacken mit Gucci- und Louis-Vuitton-Prints entwarf.
Ein weiteres bedeutendes Beispiel für die Verbindung von afroamerikanischer Kultur und Camp-Mode sind die Entwürfe des Modedesigners Patrick Kelly, der mit Wassermelonen-Prints und rotem Bandana-Stoff rassistische Stereotype ad absurdum führte und der Extravaganz der Outfits seiner Community für die Sonntagsmesse huldigte. Jenem Camp-Vermächtnis zollte beim aufwärmenden Pre-Dinner der diesjährigen Met-Gala unter Anderem die New Yorker DJane Venus X Tribut, die für ihre opulente Haarteil-Turmfrisur Inspiration in der 90er-Jahre-Komödie "Beverly Hills Beauties" sowie der afrokaribischen Kultur in New Yorker Nachbarschaften wie Uptown Harlem und Washington Heights fand.
"Make America Camp Again"
Mittlerweile ist Camp längst im Mainstream angekommen. Mit der Wahl des diesjährigen Ausstellungsthemas hat Met-Kurator Andrew Bolton präzise den Nerv der Zeit getroffen: Donald Trumps Selbstbräuner-Orange auf der Haut, seine übergroßen Anzüge, die trashige Opulenz der Trump Towers – all das ist Camp in Reinform und steht emblematisch für eine US-Politainment-Kultur, die hinsichtlich ihrer schrillen Hysterie locker mit einem John-Waters-Film mithalten kann.
Der Fotograf und Filmemacher Bruce LaBruce nennt jene neue, reaktionäre Form der artifiziellen Übertreibung "Conservative Camp". In seinen "Notes on Camp / Anti Camp" fordert er eine erneute Radikalisierung des Konzepts. Anders als Sontag, die Camp in ihrem Essay als apolitisch bezeichnet, sieht LaBruce die Ästhetik als einen Riss im Stoff der Realität, dessen subversives Potenzial es zu reaktivieren gilt. Ob die geladenen – meist superreichen – Gäste auf dem roten Teppich des Metropolitan Museums zu einer solchen Politisierung beitragen werden, ist fraglich. Hier wird Camp von den Mächtigen der Kulturindustrie interpretiert. Eher Ludwig der XIV. als Underground. Angesichts der reichen Geschichte des Camps ist aber zumindest mit spannenden Outfits zu rechnen.