Manchmal nimmt man Dinge erst dann wahr, wenn sie bedroht scheinen. Wie die Eckkneipe, in der man nie war, die man aber trotzdem ein wenig betrauert, wenn sie dem nächsten skandinavischen Coffeeshop weichen soll. Ähnliches passiert gerade mit einem Wandbild des kubanisch-amerikanischen Künstlers Felix Gonzales-Torres (1957 - 1996) in der Linienstraße in Berlin-Mitte. Auf einem schwarzen Rechteck am oberen Rand einer Brandmauer steht der weiß gepinselte Satz: "Es ist nur eine Frage der Zeit."
Da die meisten Menschen (gut verkabelt und vom Bildschirm gebannt) selten nach oben schauen, fristete das langsam abblätternde Kunstwerk am Bau in den vergangenen Jahren ein eher unbehelligtes Dasein. Erst seitdem auf dem Nachbargrundstück eine Baugerüst emporwächst (Entwicklung eines Ensembles zwischen Torstraße und Linienstraße), bringt die Sorge vor dem Verschwinden des Werks das Wandbild ins Bewusstsein vieler Berliner zurück. Es ist eine Metapher, die fast zu gut zur turboverdichteten Hauptstadt der Gegenwart passt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Kunstwerk von der Gentrifizierung geschluckt wird.
Ganz so ist es dann doch nicht. Denn wie der Architekt Volker Wiedmann beteuert, der an dem entstehenden Nachbarhaus mitarbeitet, wird der Neubau an der Seite der Brandmauer nur zweistöckig. Das Wandbild und seine Botschaft sollen also sichtbar bleiben.
Trotzdem lohnt es sich, auf die Geschichte des Werks zu schauen. Denn das eigentlich Überraschende ist, dass es überhaupt noch da ist. Obwohl Felix Gonzales-Torres Anfang der 90er-Jahre auch in Berlin arbeitete, ist das minimalistische Mural erst 2002 entstanden – also sechs Jahre nach dem Tod des Künstlers an den Folgen von AIDS. Angeregt von der New Yorker Galeristin Andrea Rosen wurde die Arbeit "Untitled (It’s just a Matter of Time)" damals gleichzeitig an mehreren Orten auf der Welt gezeigt, unter anderem in London, New York, Mailand, Zürich, Athen, Neu Delhi, den Orkney-Inseln – und eben Berlin.
An den meisten Schauplätzen wurde die Botschaft, die immer in gotischer Schrift gedruckt und in die jeweilige Landessprache übersetzt wird, wie ein Werbeplakat auf Billboards im Stadtraum geklebt. Und wie ein flüchtiger Werbeslogan sollen die Plakate eigentlich nach einigen Tagen auch wieder verschwinden. Die Werkserie "Untitled" soll geisterhaft zirkulieren, das tut sie bis heute, und so auf die Flüchtigkeit von Zeit hinweisen.
In Berlin wurde das Werk jedoch etwas solider auf die Hauswand in der Linienstraße gemalt. Besitzerin des Gebäudes war damals die Tochter der Sammlerin Erika Hoffmann. Und seit 2002 hat die eigentlich temporäre Arbeit trotzig, wenn auch etwas wettergegerbt, gut 17 Jahre überdauert.
Die Felix Gonzales-Torres-Foundation in New York, die den Nachlass des Künstlers verwaltet, zeigte sich auf Nachfrage freudig überrascht, dass das Werk nie übermalt wurde und noch sichtbar ist. Doch auch sie überlässt das Bild sich selbst. Wenn es verdeckt werden sollte, soll es so sein. Und so ist das Bild in der Linienstraße tatsächlich etwas besonderes: ein Werk eines weltberühmten Künstlers, das offiziell niemandem gehört und das ähnlich wie ein Graffiti geduldig der Dinge harrt, die da kommen mögen. Die Aussage "Es ist nur eine Frage der Zeit" kann etwas Resigniertes haben, aber auch etwas Zen-haft beruhigendes, das Veränderung gelassen annimmt. Auf jeden Fall sollte man öfter nach oben schauen.