Frau Kaßner, Frau Felle, Frau Engl, der Begriff "prekär" geistert gerade in allerlei verschiedenen Zusammenhängen durch die Kunstwelt. Was bedeutet er für Sie?
Leonie Felle: Für uns bedeutet er auch verschiedene Dinge, aber wortwörtlich würde er "schwierig" heißen.
Beate Engl: Wir haben lange darüber diskutiert, weil der Begriff so viele Facetten hat. Für meine Figur Poupé ist er sehr stark am Kapital und an der finanziellen Situation einer Person festgemacht - nicht nur von Künstlerinnen und Künstlern, aber eben auch in der Kunstwelt. Dort gibt es eine große Zahl von Leuten, die mit hohem Einsatz und niedriger Bezahlung vor sich hin vegetieren.
Franka Kaßner: Bei mir ist es auch ein Materialbegriff, also prekäre Werkstoffe. Wir haben viel Papier und rohes Holz in unserer Installation, das einen Low-Budget-Charakter hat.
LF: Der Duden sagt: "Schwierige Lage, aus der man nicht weiß, wie man herauskommen soll." Das beinhaltet ja all diese Aspekte.
"Prekärotopia" ist ein Kunstbegriff, aber Ähnlichkeiten zu realen Situationen sollen nicht ganz zufällig sein. Woran denken Sie genau?
LF: Man könnte natürlich – mal wieder – über München reden, weil es bei den hohen Mieten hier so schwierig ist, als Künstlerin zu überleben. Aber in unserem Singspiel ist das Thema weiter gefasst.
FK: Es ist gar nicht ortsbezogen. Freunde weltweit stecken in derselben existenziellen Krise, und nicht nur finanziell. Prekär kann auch bedeuten, dass man innerlich leer ist, weil der Druck so hoch ist. "Prekärotopia" ist ein toller Begriff, weil er auch die Utopie in sich hat und damit offen für alle Gegensätze ist.
BE: Natürlich ist das hoch gegriffen, aber eines unserer Vorbilder war die Dreigroschenoper von Brecht. Man spricht heute nicht mehr von Proletariat und Bettlern, aber wenn es dort am Anfang heißt, dass die Oper für Bettler gemacht wurde, ist das für uns ein konkreter Bezug.
Im Stück fragen Sie auch danach, ob man als Kollektiv oder Einzelkämpfer Veränderung schaffen kann. Wie sind Ihre Erfahrungen als Künstlerinnen: Kooperation oder Ellenbogen?
FK: In der bildenden Kunst kämpft man als Einzelner. Für dieses Projekt haben wir aber mit Musikern und Filmleuten zusammengearbeitet, und die sind alle so teamfähig. Das war eine der schönsten Erfahrungen in meinem Leben, dass es sehr wohl machbar ist, im Team zu funktionieren und an einem Strang zu ziehen. Die Figuren im Stück scheitern, aber wir sind als reale Personen nicht gescheitert – was sehr leicht hätte passieren können, weil es eine Grenzerfahrung war.
LF: Jede von uns ist schließlich auch eigenbrötlerisch als Künstlerin und hat ihre eigenen Arbeitsweisen, aber wir haben das alles in einen Topf geworfen und haben ein Wir daraus gemacht.
BE: Wir sind nicht schon immer ein Kollektiv, aber wir haben uns für dieses Projekt zusammengetan. Und man merkt es in den Liedern, den Skulpturen und den Videos: Unsere individuelle Praxis ist noch zu sehen, aber es entsteht etwas noch Besseres aus der Zusammenführung. Es war für mich extrem spannend zu sehen, was Neues passieren kann, wenn man sein Ego zurücknimmt.
Eine der Figuren, Poupé, singt den schönen Satz "Ich will nur Liebe, ich brauche kein Geld." Ist das die Hymne der Selbstausbeutung im Kunstbetrieb?
LF: Ich würde sagen, das betrifft – mit Ausnahmen – auch andere Bereiche. Letztendlich wollen wir doch alle Liebe.
FK: Aber in der Kunst ist es schon extrem. Dort wird immer erwartet, dass Künstler alles aus Idealismus tun und nicht davon leben müssen. Jeder bekommt ein Honorar für seine Arbeit, aber wir Künstlerinnen müssen immer noch für das kämpfen, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Das nervt, aber man nimmt die Jobs dann trotzdem.
Im Stück werden in den Figuren drei Möglichkeiten angelegt. Das System lieben, austricksen oder zerstören. Funktioniert irgendeins davon?
BE: Im Stück scheitern wir alle. Poupeé möchte Liebe und kriegt sie nicht, der Speaker möchte erst Revolution und dann Ruhm und Anerkennung und zerbricht daran, und der Trickster bleibt sich selbst noch am treuesten, weil die Figur Teil des Systems ist und immer weiterspringen kann. Er hätte es nur früher wissen können.
FK: Und natürlich sind wir im System. We love it. Wir haben's geschluckt, und ich empfinde das auch als nichts Schlechtes. Ich habe gewusst, auf was ich mich einlasse und ich liebe das, was ich tue. Ich weiß, ich werde das System nicht ändern. Das klingt vielleicht abgeklärt …
BE: Aber man versucht doch, jedes Mal wieder neu zu verhandeln. Wenn viele Künstler das permanent machen würden, würde auch der Stein langsam gehöhlt werden. Aber solange viele Künstler sagen, dass sie beispielsweise ohne Bezahlung arbeiten, wird das System immer weiter stabilisiert. Man verändert ja auch von innen etwas.
Warum gibt es dann so wenig kollektives Aufbegehren? Es sind doch so viele Kulturschaffende in derselben prekären Lage …
LF: Es gibt ja immer wieder Bemühungen, aber es dauert einfach sehr lange. Und es gibt zu viele Künstler, die eigenbrötlerisch weiterkommen wollen.
FK: Man ist als Künstler einfach wahnsinnig vereinzelt. Man muss sich ja auch abgrenzen. Es gibt tolle Kollektive, aber es ist gerade in der Kunst sehr anstrengend, als Gruppe zu arbeiten.
BE: Es ist ja das Problem aller Kulturschaffender: Wenn man nicht ständig versucht, den Standard zu erhalten, bricht er weg. Wenn jemand bei einer Ausschreibung sagt, er macht es zu einem unverschämt niedrigen Preis, macht er alle anderen damit fertig. Wenn alle an der Wertschätzung künstlerischer Leistung arbeiten würden, wenn sie definiert und kommuniziert würde, könnte sich nach und nach etwas ändern. Aber das wird immer wieder von einzelnen durchbrochen.
Am Ende des Stückes heißt es "Keiner für alle. Jeder allein." Ein recht ernüchterndes Fazit.
BE: Wir haben lange darüber diskutiert, wie man die Betrachter entlässt. Aber wir wollten, dass es mit dem Schlussakkord nicht zu Ende ist, deshalb kommen wir auch beim Applaus nicht auf die Bühne zurück. Das Stück soll weiterarbeiten. Es ist ja keine Tatsache, sondern eher eine Provokation: das Publikum kann weiter reflektieren.
LF: Mein Wunsch wäre, dass die Zuschauer sagen: Nein, so ist es doch gar nicht. Wir können doch zusammen etwas verändern.