Nico Vascellari in Florenz

"Den Orten ist schon viel Schlimmeres angetan worden als zeitgenössische Kunst"

Florenz kann mit seinem Prunk und seiner Geschichte schonmal die Sinne vernebeln. Künstler Nico Vascellari will mit seiner Kunst das Ungeschönte zeigen und plädiert in seiner Performancereihe "Melma" für Empathie und genaues Hinschauen

Nico Vascellaris Arbeiten ziehen in einem ganzen Jahr durch einige der bedeutendsten Orte von Florenz. Es begann mit dem Forte di Belvedere, wo im Juni seine Ausstellung "Melma" eröffnet wurde. Die in den Jahren 1590 bis 1595 erbaute Festung sollte Florenz und die Herrschaft der Medici über die Stadt sichern.

Vascellari, bekannt für seine Sound-Installationen, ist der erste zeitgenössische Künstler, der die gesamte Festung zur Ausstellung seiner Kunstwerke nutzt. Die zweite Etappe der Kunstserie ereignete sich im Salone dei Cinquecento, einem beinruckenden Raum im Palazzo Vecchio. 54 Meter lang, 18 Meter hoch, 23 Meter breit. Betritt man diesen historisch wertvollsten Raum des alten Palazzos, bleibt einem der Mund offen stehen.

An den Wänden und der Decke prangen Werke des Hofmalers der Medici, Giorgio Vasari. Ganze 42 an der Zahl. Hier zeigte Vascellari (geboren in 1976, Vittorio Veneto) seine Performance "Alessio", die dem Projekt "Melma" untergliedert ist und später als eine Videoinstallation im Museo Novecento zu sehen sein wird. Im Dezember dann wird auch eine Skulptur des Künstlers auf der Piazza della Signoria enthüllt, einem der berühmtestes Plätze Italiens.

Feine Details und große Umsicht

Wie es sich anfühlt, mit einer so kunstvollen Stadt in den Dialog zu treten? "Ich fühle das Gewicht der Verantwortung, der Geschichte und der Schönheit der Stadt. Gleichzeitig denke ich, dass auch wir heute ein Teil des Ganzen sind und uns ein Platz zusteht", erklärt Vascellari. "Es gibt eine so große Debatte darüber, welche Kunst auf welchen Plätzen ausgestellt werden darf. Doch auf denselben findet man hässliches Mobiliar von Hotelketten, Geschäfte, Autos, Mülleimer. Den Orten ist schon viel Schlimmeres angetan worden als zeitgenössische Kunst." Das von Touristenmassen überrollte Florenz kann ein Lied davon singen.

Nico Vascellari zollt der Stadt, die er sich für seine temporäre Kunst-Besiedelung ausgesucht hat, durch feine Details und große Umsicht Respekt. Seine Werke im Forte di Belvedere etwa sind alle zentral im Raum ausgerichtet. Eine Antwort auf die Symmetrie und Geometrie der Stadt. Die absichtlich offengelassenen Fenster im ersten Stock des wuchtigen Gebäudes gleichen Gemälden der toskanischen Landschaft. Florenz wird mit einbezogen.

Der Umgang mit unserer Umwelt, allen Schöpfungen und Lebewesen spielt eine große Rolle in Vascellaris Arbeit. Wie reagieren wir auf das Andere? "Melma" bedeutet übersetzt Schlamm oder Sumpf. Ein Begriff, der laut Vascellari viel umfasst. "Wir verstecken Chaos, wir wühlen nicht im Schlamm, sondern projizieren das Problem auf etwas Anderes". In seiner Ausstellung stehen sich Mensch und Natur gegenüber, ungeschönt.

33 Mal Alessio

Mit "Maelstrom of Evil" ist ein halber Wolfskopf aus Bronze betitelt. In dessen reflektierender Oberfläche spiegelt sich das Gesicht des Besuchenden, vervollständigt das des Tieres. "Fossil of Experience" heißt eine Videoinstallation, in der Kinder Tiere im Zoo bestaunen. Ihre Gesichter verdoppeln sich in den Glasscheiben, die sie von den Raubtieren trennen und legen sich über deren Köpfe.

In seiner Arbeit "Nido" zerlegte der Künstler Vogelnester in ihre vielen winzigen Bestandteile – Zweige, Gräser, Ästchen. So analysierte er den Begriff "Zuhause", da in Fragmenten oft das große Ganze besser zu verstehen sei. Die gezeigten Werke verbindet eine gewisse Melancholie und Dunkelheit, sie berühren, konfrontieren, regen an, sich zu fragen: Wie gehe ich mit dem um, was mich umgibt? Ohne eine Auseinandersetzung mit sich selbst verlässt man die Flure des Forts kaum. Diese Selbsterkenntnis stellt auch die Brücke zu der Performance "Alessio" dar.

Alessio ist ein 26-Jähriger Mann. Er lebt in Rom und besucht jeden Tag dieselbe Bar, die sich gegenüber des Studios von Nico Vascellari befindet. Der Künstler hörte zuerst seine Laute, ein Pfeifen, ein Rufen. Eines Tages setzte sich Vascellari in besagte Bar und betrachtete den jungen Mann.

Vascellari schaut nicht weg

Zu den Tönen nahm er nun die Bewegungen wahr, eine bestimmte Abfolge, immer die gleiche, für eine Zeit. Tage, Wochen. Dann ändern sie sich, setzen sich aus anderen Elementen zusammen. Alessio berührte ihn, doch mehr als das: er ließ Vascellari selbst seine alltäglichen Verhaltensmuster hinterfragen, denn "wir begehen den öffentlichen Raum in einem bestimmten, uns anerzogenen Modus." Alessio ist autistisch und kann nicht verbal kommunizieren, also wendete sich Vascellari an seine Mutter. Er wollte die faszinierende Präsenz des jungen Mannes weiter untersuchen.

Zurück in Florenz erwartet die Zuschauenden eine große Leinwand in Mitten des Salone dei Cinquecenti. Eine sich immer wiederholende Sequenz zeigt Alessio vor seiner Bar, er schwankt von dem einen auf das andere Bein, führt Handbewegungen aus, die aussehen, als würde er Küsse in die Luft verteilen. Seine linke Hand streift über die Gräser in einem Blumenkasten, er wirft die abgezogenen Knospen auf den Boden, hüpft zwei Mal in die gleiche Richtung, tritt zurück, betrachtet seine Hände, schwenkt seinen Oberkörper zu beiden Seiten, klatscht sich auf den Bauch. Wieder und wieder und wieder.

Dazwischen stößt er Laute aus, die in hoher Intensität über die Lautsprecher wieder gegeben werden. Bei den ersten Durchgängen wundert man sich, der Saal scheint irritiert. Was sieht man hier? Würde einem dieser Mann im echten Leben auf der Straße begegnen, würde man wohl so schnell es geht an ihm vorbei laufen. Vielleicht etwas zu lange zur Seite schauen, um einordnen zu können, ob es ihm gut geht, was er macht. Oder einfach, weil er sich ungewöhnlich verhält und man nicht wegschauen kann, obwohl man wohl sollte. Vascellari schaute nicht weg. Im Gegenteil multiplizierte er das als abweichend wahrgenommene Verhalten Alessios 33 Mal.

Bewusster Wahrnehmen

Es beginnt mit einer einzigen Person, die dem digitalen Alessio analog Gesellschaft leistet und seine Bewegungen und Laute synchron mit ihm durchführt. Innerhalb der 45 Minuten, die die Performance dauert, kommen immer mehr Tänzer dazu, die sich alle in den Rhythmus einreihen. Sie gleichen einer Armee, die Alessios Anderssein verschwimmen lässt, je mehr es werden, je länger es dauert. Langsam spürt man den eigenen Kopf mitwippen.

"Ich wollte nicht unbedingt Stühle nutzen, sodass auch das Publikum sich in den Bewegungen hätte verlieren können. Aber letztlich gefiel mir auch die Entscheidung, dass die Menschen sitzen müssen und nicht entkommen können, sie müssen aushalten." So lange, bis man sich an die Szene gewöhnt und sie sich fast normal anfühlt.

Normal, was ist das eigentlich? Der Suche nach der Antwort auf diese vieldiskutierte Frage verschrieb sich auch Vascellari. "Wie weit erlauben wir als Gesellschaft ein Anderssein? Bin ich es, der zuschaut, oder werde ich selbst angeschaut? Letztlich haben wir alle Schwierigkeiten, etwas anzunehmen, das sich von uns selbst zu sehr unterscheidet. Ich würde gern über diese Arbeit als ein offenes Fenster oder einen Spiegel nachdenken. Was man in einem Spiegel sieht, kommt immer auf dich selber an, es ist eine Reflexion", fasst Vascellari seine Gedanken zusammen.

Grenze zwischen Entstigmatisierung und Bloßstellen

Ihn selbst ließ das Projekt das Gewicht der vielen Regeln und Einschränkungen spüren, die wir uns selber auferlegen oder denen wir uns ausgesetzt sehen. Daraus entstehe eine gewisse Unterdrückung, die ihn sehr frustriere. Durch seine Arbeit mit Alessio sei eine Barriere durchbrochen worden, die man sonst oft im Umgang mit als anders wahrgenommenen Menschen spüre. Statt ihn zu ignorieren, wird seine Eigenart hervorgehoben. Gleichzeitig fragt man sich während der Performance: "Darf der das?" Einen Menschen zeigen, ohne dass dieser sein klares Einverständnis hätte geben können? Wie verhalten sich hier die Grenzen zwischen Entstigmatisierung und Bloßstellen?

"Ohne das Einverständnis von Alessios Mutter hätte ich das Projekt niemals begonnen", erklärt Vascellari. "Sie und ein Psychologe haben uns in jedem Schritt begleitet. Ein respektvoller Umgang war mir das Wichtigste. Ich kann nicht von mir behaupten, dass mein Verständnis von Alessios Diagnose zutiefst wissenschaftlich war. Aber das sollte mich nicht davon abhalten, zu versuchen, ihn und sein tägliches Leben zu verstehen, auch in Bezug auf mich selbst." Alessio wird bald ein Praktikum in Vascellaris Studio beginnen.

Den jungen Mann auf der Straße wahrzunehmen und die daraus entstandene Performance ist für Nico Vascellari stark mit dem Aspekt der Befreiung verbunden. Eine sich durchsetzende Freiheit spürt man auch mit jedem provozierenden Schütteln, Springen und Schwanken in dem einschüchternden Salone dei Cinquecento. Die Tänzer nehmen den Raum für sich ein. Gleichzeitig tragen sie pastellfarbene T-Shirts, deren Farben sich in den Tönen der Vasari-Gemälde wiederfinden. Die Größe der Leinwand ist auf die der Werke an den Wänden abgestimmt. Deplatziert ist hier nichts. Nico Vascellari kreierte ein Equilibrium, eine sanfte Co-Existenz zwischen Zeitgeist und Tradition, Mensch und Umwelt, Ungewöhnlichem und Vertrautem. Eine Herausforderung, der man sich stellen sollte.