"Die Überschreitung der Grenzen ist immer noch innerhalb der Grenzen der Kunst", pflegte die Künstlerin Natalia LL zu sagen. Sie war eine mutige Vorreiterin der feministischen Kunst in Osteuropa, Konzeptualistin, Fotografin, eine Performerin, eine Pädagogin. Nun ist sie im Alter von 85 Jahren gestorben. Ihr intensives und produktives Werk erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte: von den 1960ern bis in die 2000er. Und so hat ihr Verständnis von Grenzüberschreitung – sei es geschlechtlich, moralisch oder spirituell – auf der Reise durch die Zeit eine andere Bedeutung bekommen.
Natalia LL (eine Abkürzung ihres Doppelnamens Lach-Lachowicz) wurde 1937 in Żywiec in Südpolen geboren. 1963 machte sie ihren Abschluss an der Akademie der Schönen Künste in Wrocław. Von 1970 bis 1981 leitete sie zusammen mit Andrzej Lachowicz (ihrem Ehemann), Zbigniew Dłubak und Antoni Dzieduszycki die Galerie Permafo. Sie war benannt nach der Idee einer "permanenten Formalisierung", die Kunst als Prozess und als Konzept verstünde – allerdings nicht nur mit dem Einsatz des Intellekts, sondern auch auf physischer Ebene, mit dem Körper. Mitte der 1970er-Jahre entwickelte die Künstlerin eine eigene feministische Formsprache und wurde Teil einer internationalen Bewegung: einer Szene, die mit der zweiten Welle des Feminismus verbunden war.
Natalia LLs einprägsamstes und innovativstes Werk ist die Serie "Consumer Art", die zwischen 1972 und 1975 entstand und Fotografien und Videoarbeiten verbindet. In den Filmen und auf den Bildern sieht man Frauen, die erotisch Bananen, Bockwürste, Salzstangen und Eiscreme essen oder abschlecken – Luxusgüter, die im kommunistischen Block nicht zu bekommen waren. "Die Models konsumierten, und ich fotografierte, und plötzlich wurde es sehr erotisch", erinnerte sich die Künstlerin einmal an die Entstehung der Arbeit. "Consumer Art" wurde zum ersten Mal 1973 in der Galerie Permafo gezeigt. Und wie viele der Werke von Natalia LL, die Nacktheit, Weiblichkeit und Sexualität zeigen, wurde es heftig kritisiert und musste schließlich aus der Ausstellung entfernt werden. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Künstlerin politischer und moralischer Zensur unterworfen wurde.
Doppelte Lesart im Osten und Westen
Im kapitalistischen Westen wurde "Consumer Art" hingegen sehr begeistert aufgenommen und landete 1976 auf dem Cover des Magazins "Flash Art". Das lag auch daran, dass der westliche Liberalismus die Objektivierung und den Tokenismus von Frauen im sozialen Bereich förderte, wo Kapitalismus und erotische Motive häufig miteinander einhergingen. Daher kann "Consumer Art" heute sowohl als eine Mischung aus Sehnsucht nach Konsum und der Freiheit des sexuellen Ausdrucks als auch als Kritik am westlichen Patriarchat, der Werbekultur und der Fetischisierung gelesen werden.
Die feministische Wissenschaftlerin Agata Jakubowska beschrieb Natalia LLs Gesten als "exhibitionistische Mutproben", die die Moral der Gesellschaft an der Wende der 1960er- zu den 1970er-Jahren mit dem Bild einer Frau verletzten, die langsam das phallische Symbol der männlichen Dominanz verschlingt und so den männlichen Blick beunruhigt. Seit den 1980ern, in der Periode, die sie als Postkonsumkunst bezeichnete, wendete sich die Künstlerin verstärkt dem Spiritualismus, dem Träumen, der inneren Emigration und der nordischen Mythologie zu. Sie setzte die Erforschung des Selbst fort, so auch mit den mystischen oder geschlechtsverwischenden Figuren, die sie in Werken wie "Die Hexe" (1993), "Brunhild" (1994) oder "Odins Rabe" (2010) verkörperte.
Der Künstler Karol Radziszewski zeichnete die feministische und queere Ikonografie in Natalia LLs Werken nach, insbesondere die Rolle der Banane (das Obst war ein wiederkehrendes Motiv, das sich durch das Schaffen der Künstlerin zog). Für seinen Film "America is not ready for this", dessen Titel einen Kommentar des berühmten Kunsthändlers und Sammlers Leo Castelli über das Werk von Natalia LL zitiert, interviewte Radziszewski Künstler wie AA Bronson, Marina Abramović oder Carolee Schneeman. Letztere erinnerte sich: "Wir waren zwei wilde Mädchen, zwei verrückte Frauen, und es gab nicht so viele andere. Also trafen wir uns und sprachen darüber, wie schwer es war, unsere Arbeit voranzubringen." Einige von Natalia LLs Werken sind heute Teil internationaler Sammlungen, doch waren es zumeist kleinere oder größere Städte in Polen, in denen sie ausstellte.
Im Jahr 2019 erlebte die Künstlerin im Nationalmuseum in Warschau erneut einen Akt der Zensur. Die Reaktion war eine Protestaktion in Form eines kollektiven Bananenessens, die als #bananagate viral ging. Ein Aufbegehren gegen die unkommentierte Entfernung dreier feministischer Werke aus dem Museum für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts (die Direktorin trat danach zurück). "Consumer Art" hatte ein Comeback als eines jener Kunstwerke, die im Laufe der Zeit an Bedeutung zurückgewinnen. Die heutige Aktualität lässt sich in der Ästhetik der sozialen Medien erkennen - und in einer von Narzissmus getriebenen Kultur.
2007 inszenierte Natalia LL im Garten ihres Landhauses eine Performance mit dem Titel "Rainbow", die jetzt nach ihrem Tod als eine Botschaft an die Nachwelt verstanden werden kann. Ein Foto zeigt sie links und rechts unter einem natürlichen Regenbogen auf einem Feld stehend, je zwei gelbe Signalflaggen in der Hand. "Der Regenbogen hat mich schon immer fasziniert. Sowohl als Symbol für die Versöhnung von Jehova und Noe als auch als Ergebnis der Streuung von weißem Licht in Grundfarben in Wassertropfen", sagte die Künstlerin über die Bedeutung des Naturphänomens. "Ich würde gerne in einem Regenbogen stehen und den Menschen mit der Sprache der Semaphorensignale, die gegen elektronische Verzerrungen gefeit ist, sagen, dass das Leben einen Sinn hat, dass wir existieren. Und auch nach dem Tod sollen unsere energetischen Kräfte nicht vergessen werden."
Die von Natalia LL werden es sicher nicht, sie sind der Ursprung ihres Eintretens für unbedingte geschlechtliche Freiheit und bestehen im Werk der Küstlerin fort. "Denn das Leben ist eine unauslöschliche Tatsache."