Jeremy Shaw in Berlin

Nah am Göttlichen

Der kanadische Künstler Jeremy Shaw kreuzt in seiner Videoarbeit "Quickeners" religiöse und popkulturelle Verzückung miteinander. Die aufwühlende Science-Fiction-Mockumentary ist jetzt in Berlin zu sehen

Spekulative Kunstwerke entstehen unter einem großen sprachlichen Aufwand, muss doch eine schlüssige Welt erschaffen werden, die es nicht gibt, die der Rezipient aber trotzdem halbwegs versteht. Dass man sich in einer solchen aus Neologismen und fremde Idiomen zusammengeklebten Science-Fiction-Realität befindet, wird dem Betrachter des neuen Films des kanadischen Künstlers Jeremy Shaw schnell bewusst: Da ist von einem ominösen "The Hive" die Rede, von der Quantum-Menschheit, von einem "Human Atavismus Syndrom", und immer wird so getan, als sei das alles dem Zuschauer bekannt. Der Betrachter dieser Sci-Fi-Doku wird angesprochen, als wäre er selbst Teil der Sci-Fi-Welt.

Doch Shaws 35-minütiger Film "Quickeners" spielt visuell in der Mitte des 20-Jahrhundert. Er beginnt wie eine gemächliche Reportage auf zerkratztem Zelluloidfilm, die eine ekstatische Hinterwäldlersekte porträtiert: schwarzweiße Bilder von Häusern einer Bergregion-Gemeinde, leicht verschrobene oder auch charismatische Menschen, die von Erweckungserlebnissen erzählen. Der sachliche, verrauschte Off-Kommentar stellt sie als "Quickener" vor, die unter einer seltenen Krankheit leiden, mystisch begabt sind und eine direkte neurologische Verbindung zum "Hive" besitzen. Der Film nimmt sich Zeit, eine neue Wirklichkeit zu etablieren, und kommt erst langsam in Schwung.

Die Quickener sprechen in einem verzerrten Englisch, das Untertitelung braucht. Man glaubt immer wieder Wortfetzen zu verstehen, aber die Sprache galoppiert davon und folgt eigenen Regeln. Eine Andacht wird gezeigt, in der die Gläubigen (oder eben "Kranken") in Trance verfallen. Plötzlich ändern sich auch die filmischen Mittel, die Bilder und der Sound selbst geraten in Verzückung …

Jeremy Shaw hat Archivmaterial neu vertont und mit "Quickeners" eine seltsame, aufwühlende Sci-Fi-Mockumentary geschaffen, die religiöse Sehnsucht und popkulturelle Verzückung miteinander, ja, eben verquickt. Sie ist voller erregender Widersprüche, die schwer im Magen liegen: dass die unbekannte Zukunft, von der auf der Tonebene berichtet wird, nach 50er-Jahre aussieht, dass die Schaffung einer fantastischen Realität in einem Werk der bildenden Kunst allein mit sprachlichen Mitteln gelingt, die das historische Material glaubhaft umdrehen. Man sitzt da wie in einer vergangenen Zukunft und kann das alles kaum fassen.