Wenn man jetzt in einem dieser aus der Hüfte geschossenen Nachrufe liest, mit Jean-Luc Godard habe eine "Ikone der Nouvelle Vague" diese Welt verlassen, möchte man die Augen zum Himmel verdrehen. JLG war viel mehr, er war die Verkörperung des modernen Kinos – in der permanenten Suchbewegung, im Gelingen, im Scheitern. Im Überleben.
Die "neue" Welle des französischen Kinos, da sprechen wir über die späten 1950er- und die 1960er-Jahre, hat der französisch-schweizerische Filmemacher natürlich mitgeprägt. Die anderen "Enfants terribles" dieser Zeit des Aufbruchs, etwa Jacques Rivette, Éric Rohmer, Claude Chabrol, hat Godard alle überlebt. François Truffaut, der das Skript zu Jean-Luc Godards "Außer Atem" schrieb, starb sogar schon mit 52. Godard aber, dessen Schaffen viel weniger "rund" erscheint als das seines ehemaligen Weggefährten Truffaut, blieb der Unvollendete, der Rastlose – und auf produktive Weise Ratlose des Weltkinos.
Wie Rivette, Rohmer, Chabrol oder Truffaut fing Godard mit dem Schreiben an, setzte sich als Kritiker und Theoretiker mit dem Kino auseinander. Ein substanzieller Unterschied zwischen Drehen und Schreiben bestand für Godard ohnehin nicht. "Ich habe mit dem Kino angefangen mit 20, 21, ohne wirklich zu drehen", resümierte Godard 1978 vor kanadischen Filmstudenten, "nur so im Kopf, ich habe Zeitschriften gelesen und so, wie man sich als Junge eben für eine bestimmte Sache begeistert."
Sein Erstling war ein 16-minütiger Dokumentarfilm über den Bau einer Staumauer in der Schweiz: "Opération Beton" (1954). Godard wurde zwar in Paris geboren, wuchs aber im Schweizer Kanton Waadt auf. Nach der Scheidung seiner Eltern siedelte er 1948 nach Paris über, Anfang der 1980er ging Godard in die Landschaft seiner Kindheit zurück, in der Kleinstadt Rolle am Genfersee lebte er bis zuletzt und ist dort auch gestorben.
Filmische Innovation als Zufall
"Opération Beton" wurde von Godards Kritikerkollegen verrissen, gerade weil er sich als Autor schon einen Namen gemacht hatte. Es dauerte noch einmal fünf Jahre, bis dem Regisseur mit "Außer Atem" 1960 der große Wurf gelang. Schon diese Hommage an den amerikanischen Film noir strotzte vor Regelverstößen. Legendär und heute selbstverständlich: der Jump-Cut, bei dem das Filmbild förmlich springt. Laut Godard resultierte er aus Kürzungszwängen, denn sein erster Spielfilm hatte zuerst einen sehr langen Atem, musste aber unter 90 Minuten kommen. "Wir haben uns alle Einstellungen vorgenommen und systematisch das geschnitten, was wegkonnte", erzählte Godard 1978.
Aus einer Schuss-Gegenschuss-Szene zwischen Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo habe er mit der Cutterin einfach alle Einstellung eines Stars herausgeschnitten, "und dann schneiden wir einfach eins ans andere, als ob es eine Einstellung wäre". Man habe "gelost um Belmondo und Seberg, und Seberg ist dringeblieben. So ist das Ganze gekommen, will ich damit nur sagen." Filmische Innovation als Zufall.
"Eine Frau ist eine Frau", "Die Verachtung", "Elf Uhr nachts", "Weekend" und viele andere Filme: In den 1960ern war Godard ungeheuer produktiv und schon jetzt hemmungslos experimentell. Vom mehr oder weniger klassischen Erzählkino, an dem Truffaut festhält, entfernt er sich immer mehr. Für die "Continuity", das amerikanische Modell eines die Zuschauer mitziehenden Erzählflusses, hat Godard nur Verachtung übrig. Bild und Ton, Handlung und Dialog tanzen auseinander, Schrifttafeln unterbrechen die Handlung, notorisch schweift Godard vom Thema ab.
Und er kommt in praktisch allen Filmen dieser Phase auf den Vietnamkrieg zu sprechen. Natürlich auch in "Weekend", bei dem in einer irre langen Kamerafahrt aus einem Verkehrsstau auf einer Landstraße ein blutiges Konsumgesellschafts-Armageddon wird. Dann der Schlusstitel: "Fin du cinéma"
Mit "Weekend" setzte Godard tatsächlich erst einmal einen Schlusspunkt. Kino, das war ihm damals schon klar, "gehört im Innersten zur Kosmetikindustrie, zur Industrie der Masken, und die ist ihrerseits bloß eine Nebenbranche der Lügenindustrie".
Nichts wie weg vom Kommerzkino also. Bestärkt vom Pariser Mai 1968 beschloss er nun, "nicht politische Filme, sondern Filme politisch zu machen". Godard wendet sich vom Filmverleih-System ab, gründet gemeinsam mit dem sozialistischen Theoretiker Jean-Pierre Gorin die nach einem russischen Filmpionier benannte Gruppe Dziga Vertov, die ihr Schaffen in den "Dienst der Revolution" stellend auf das Filmemachen im Kollektiv setzt. Mit seiner Firma Sonimage wird Godard in den frühen 1970ern unabhängig von großen Produktionsfirmen. Nun dreht er fast ausschließlich mit Videokameras und im dokumentarischen Stil.
Der Plot ist tot, es lebe das Kino
Ab 1980 entstehen wieder Spielfilme, noch spröder, experimenteller, vielschichtiger als in der "klassischen Phase" der 1960er: "Rette sich, wer kann (das Leben)", "Passion", "Vorname Carmen", "Maria und Josef". Den mit Personal aus Shakespeares "Sturm" besetzten "Détective" (1985) um einen Schnüffler namens Prospero könnte man als letzten "konventionellen" Film Godards bezeichnen, obwohl das bei einem Konventionsverächter wie ihm seltsam klingt.
In der Folge wird es restlos unmöglich, einen Godard-Film zusammenzufassen. Der Plot ist tot, Godards Kino lebt weiter. Der Langfilm mit dem bezeichnenden Titel "Nouvelle Vague" (1990, mit Alain Delon), ein Essay mit Handlungsfragmenten, deutet an, dass von den französischen Filmbilderstürmern allein Godard dem Nouvelle-Vague-Ideal der Hollywoodferne wirklich treu geblieben ist.
Und wenn nicht Godard, welcher Filmemacher gehörte sonst ins Kunstmuseum? Seine vom Fernsehen produzierte Reihe "Histoire(s) du cinéma" war auf Cathérine Davids Documenta X zu sehen, 1997, als die "Histoire(s)" noch ein work in progress waren. Mit seinem Opus Magnum verwirklichte Godard seinen alten Traum einer Filmgeschichte in Bildern und Tönen statt zwischen Buchdeckeln. 1978 war Godard mit Filmstudenten in Montréal schon einmal zu diesem Ziel aufgebrochen, die Film-Lectures blieben in dem Band "Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos" erhalten, der auf Deutsch zuletzt bei Fischer Cinema erschien und zurzeit nur antiquarisch erhältlich ist.
Die Hände ruhen
Bildende Kunst, Musik und Kino kamen bei Godard schon immer zusammen. Bereits zwischen "Außer Atem" und "Weekend" ruhte sich die Kamera regelmäßig auf Porträts von Renoir oder Picasso aus. Oder Godard ließ seine Stars unvermittelt ein Chanson anstimmen, wie etwa in "Elf Uhr nachts" seine damalige Frau Anna Karina, die in sieben seiner Filme mitspielte. Jeder Godard-Film schweift lustvoll ab, stößt das Publikum mit Unstimmigkeiten zwischen Bild und Ton vor den Kopf, zerreißt den roten Faden, revoltiert gegen Gefühligkeit, feiert das Diskontinuierliche.
Reflexion, Improvisation und Collage, die Godards Schaffen seit jeher bestimmen, verdichten sich in seinen jüngeren Werken. Das ist noch einmal in "Bildbuch" zu erleben, eine alterswilde Assemblage von Bildern, Texten, Tönen, die 2018 mit einer Palme d'Or Spécial in Cannes ausgezeichnet wurde.
Wieder schürft Godard im "Bildbuch" in der Film- und Kulturgeschichte, und bleibt doch immer ganz bei sich – und seinen eigenen Händen: "Das sind die fünf Finger", heißt es zu Anfang der filmischen Reise, über dem Bild eines Schneidetischs. "Die fünf Sinne. Die fünf Kontinente. Die fünf Feenfinger. Alle zusammen formen die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen."
Jetzt ruhen diese Hände. Mit 91 ist der Filmemacher am Genfersee gestorben. Godard war das Kino. Was wird das Kino ohne ihn sein?