Entschuldigung, leider vergessen, wofür braucht man noch mal die Kunst? Fragen wir doch mal bei den alten Griechen nach. Laut Aristoteles dient sie (im speziellen das Drama) zur Erregung von Affekten: Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder, oder, in Lessings Interpretation, Mitleid und Furcht.
In der so genannten Katharsis reinigt man sich dann von diesen Affekten und wird – hoffentlich – ein besserer Staatsbürger. Manche Altertumswissenschaftler vermuten, dass die alten Griechen diese Affekte in der Katharsis nicht veredeln, sondern eher loswerden wollten wie einen quer sitzenden Pups, der raus muss und einen dann nicht mehr belästigt. Lessing, Humanist, der er war, interpretierte das natürlich anders und sah das Ganze als eine Art Trainingscamp der Gefühle: Nur der mitleidende Mensch sei ein moralischer Mensch. Eine These, die auch viele heutige Soziologen und Theoretiker unterschreiben würden. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, gilt als der soziale Kitt schlechthin, als Voraussetzung für gesellschaftliches Handeln.
Mitleid heißt jetzt Empathie
Heute nennt man es allerdings nicht mehr Mitleid, wenn die Spiegelneuronen so richtig feuern, man nennt es Empathie – und dieses Gefühl macht gerade eine erstaunliche Karriere im Kunstbetrieb. "Wie kann die Kunst Empathie fördern?" ist die Leitfrage einer gerade angekündigten Konferenz der Reihe "Communicating The Arts", die im Oktober in Montreal stattfinden wird. Der Gastgeber der Networking-Konferenz, das Montreal Museum of Fine Arts, sei als "innovativer Vorreiter bei der Förderung von Wellness durch Kunst" bekannt, heißt es in der Pressemitteilung.
Mehrere Tage lang werden sich zahlreiche Referenten und Referentinnen aus dem Museumsbereich mit den Themen "Inklusion, Empathie und Wohlbefinden" beschäftigen. Die Relevanz des Themas wird mit verschiedenen Beispielen belegt. So hat die britische Künstlerin Clare Patey das "Museum of Empathy" gegründet, mit mobilen Ausstellungen, bei denen man buchstäblich eine Meile in den Schuhen eines anderen laufen kann: Die Besucher suchen sich ein paar Schuhe aus, machen einen Spaziergang und hören dabei auf Kopfhörern die Geschichte eines fremden Menschen. Und auch das Portland Art Museum, das seine Vermittlungs-Abteilung in die "Abteilung für Lernen und Gemeinschaftsbildung" umbenannt hat, stellt Empathie bei seiner Arbeit mit verschiedenen Communities mittlerweile ins Zentrum seiner Bemühungen.
Museen mit Superman-Cape
Warum plötzlich so viel Gefühl? Die Vorstellung vom Museum als Schule der Empathie ist Teil einer Entwicklung, die Kunstinstitutionen immer größere Aufgaben und Verantwortlichkeiten zuschreibt. Die Zeit, wo man dachte, ein Museum sei dazu da, Kunstschätze zu erforschen, zu bewahren und zu zeigen, ist lange vorbei. Heute ziehen sich Museen das Superman-Cape über und retten im Alleingang, was die Gesellschaft als Ganzes nicht mehr hin bekommt. Sie kümmern sich um Bildung und Ausbildung, wollen Teilhabe ermöglichen und benachteiligte Gruppen stärken, sie engagieren sich in Stadtteilarbeit, Urbanistik und möglichst auch noch als Gärtnereibetrieb und Refugium für Bienenvölker.
Seit dem Siegeszug der Relational Aesthetics finden wir es normal, wenn Künstler im Museum kochen, Massagen verabreichen oder aus der Hand lesen, wir haben akzeptiert, dass sie sich als Sozialarbeiter verstehen wie Thomas Hirschhorn oder als investigative Ermittler wie Forensic Architecture. Jetzt greift diese Allzuständigkeit auf die Institutionen über – und Museen wollen nicht mehr nur alte Gemälde restaurieren, sondern gleich die ganze Gesellschaft heilen.
Gefühls-Management gegen politische Kälte
Das ist ein heheres Ziel – und wahrscheinlich auch eine ziemliche Selbstüberschätzung. Und es passt auf fast unheimliche Weise zu dem Wellness-Diskurs einer Gesellschaft, die das Soziale immer weiter abbaut und die Schäden per Gefühls-Management-Workshop zukleistern will.
Nur dass wir uns nicht falsch verstehen: Gegen mehr Empathie in der Gesellschaft ist absolut nichts zu sagen, nichts gegen mehr Wohlbefinden, und auch nichts gegen soziale Verantwortung. Und nebenbei würde man so mancher Berliner Museumsaufsicht die Grundzüge des freundlichen menschlichen Miteinanders auch gern mal beigebracht wissen. Aber die Museen allein können die Welt nicht retten. Auch nicht mit viel Gefühl.