Museumsdirektorin aus Charkiw

"Wir müssen die Kultur hier am Leben erhalten"

Museumsdirektorin Tetjana Pylypchuk
Foto: Oleksandr Osypov

Museumsdirektorin Tetjana Pylypchuk

Das Literaturmuseum in Charkiw ist durch den russischen Angriffskrieg ein Ort geworden, an dem Identität verhandelt wird. Hier spricht Direktorin Tetjana Pylypchuk über ukrainische Avantgarde und ihre Arbeit unter täglichem Beschuss

Die Literaturwissenschaftlerin Tetjana Pylypchuk steht auf der Treppe des Literaturmuseums von Charkiw, lächelt und bittet in die Ausstellung: Holzarbeiten im Halbdunkel, eine Rauminstallation, in der Licht und Schatten, Miniaturlandschaften Fragen nach der Stadt Charkiw stellen. An den Wänden Malerei, persönliche Verarbeitungsprozesse: Die Stadt wird seit über zweieinhalb Jahren jeden Tag bombardiert. Über 6000 Gebäude sind inzwischen zerstört. Wir haben mit Pylypchuk, die das Literaturmuseum leitet, gesprochen.

Tetjana Pylypchuk, welche Rolle spielte das Kharkivsʹkyy Literaturnyy Muzey, das Literaturmuseum von Charkiw, vor der russischen Invasion?

Der wichtigste Teil war unsere Sammlung aus den 1920er- bis 1960er-Jahren. Wir haben ein Archiv des ukrainischen literarischen Widerstands. Der Großteil davon war in der Sowjetunion verboten, da er als antisowjetisch galt. Heute erscheint dieses Material in ganz anderem Licht, weil Russland Narrative auf der Grundlage sowjetischer Botschaften konstruiert.

Was sind das für Narrative?

Eine Darstellung einer Ukraine als künstliche Konstruktion ohne Existenzrecht. Eine Ukraine, die Teil eines russischen Reiches sei. Wir finden in unseren Archiven Material künstlerischer Bewegungen, die all das untergraben. Es sind Ausdrucksformen von Unabhängigkeit, eines Selbstverständnisses als Ukrainer, das den russischen oder imperialen Narrativen zuwiderläuft.

Wann haben Sie mit dem Aufbau des Archivs begonnen?

Das Museum wurde 1988 gegründet, drei Jahre, bevor die Ukraine unabhängig wurde. Damals begannen wir, Materialien zu sammeln und die komplizierten Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zu untersuchen. Meistens handelt es sich um Manuskripte, Dokumente, Fotos und Briefe aus literarischen Kreisen. Ihre Bücher und Broschüren wurden in der Sowjetunion vernichtet, die Menschen wurden verfolgt. Wir sprechen über die Schriftsteller der "WAPLITE"-Gruppe hier in Charkiw in den 1920er- und 1930er-Jahren – der bekannteste war Mykola Chwylowyj, der 1933 Selbstmord beging. Aber auch Poeten der Avantgarde, die dann mit vielen anderen im Wald bei Sandarmoch hingerichtet wurden. Majk Johansen wurde am 20. Jahrestag der Oktoberrevolution 1937 in Kyjiw mit hunderten Menschen erschossen. Wir haben auch Materialien der "Schistdesjatnyky", die in den 1960er-Jahren die Russifizierung kritisierten. Das Hauptthema dieses Museums ist die hingerichtete Renaissance. Einige Künstler waren Kommunisten, andere Freidenker, die meisten von ihnen erlitten schreckliche Konsequenzen, weil sie sich als Ukrainer betrachteten und an eine ukrainische Geschichte erinnerten.

Warum sammelten Sie ursprünglich diese Artefakte?

Um sie zu finden, zu bewahren, zu untersuchen, zu rekonstruieren. Wir kontaktierten Kinder dieser Schriftsteller, damit sie uns Materialien vermachten, wir suchten nach Ehepartnern und Verwandten. Wir kamen mit der nächsten Generation von Schriftstellern in Kontakt, die Dokumente aufbewahrten. Ursprünglich bestand die Idee darin, die literarische Kultur der 1920er- und der 1960er-Jahren aufzuspüren. Sie war von hier, aus Charkiw ausgegangen und wirkte unter Schichten sowjetischer Kultur.

Wie wurde ukrainische Literatur und Kunst in der Sowjetzeit diskutiert?

Beispielhaft als uninteressant, als rückständige Volksmärchen, provinzielle Literatur oder Kunst. Dies war sehr fruchtbare Propaganda. Der Ansatz, die ukrainische Kultur als Provinzkultur darzustellen, verfing. Und selbstverständlich wurde Literatur verfolgt, die vom Holodomor sprach, der von Stalin inszenierten Massenhungersnot. Die Schriftsteller und Künstler wurden ermordet. Da gab es keine Diskussion.

Wie wurde das Museum wahrgenommen, als es gegründet wurde?

Das Hauptthema, wenn Sie so wollen, also unsere Geschichte, war in Charkiw Anfang der 1990er-Jahre nicht sehr populär. Die Menschen hier fühlten sich eher in die russische Kultur eingebunden. Die lokale Regierung unterstützte uns nicht. Es schien, als ob dieser Teil der Geschichte für Charkiw als eher marginal wahrgenommen wurde. Aber wir sammelten und untersuchten all das Material, all diese Botschaften aus dem 20. Jahrhundert in unseren Ausstellungen weiter. Wir haben zum Beispiel versucht, mit den Besuchern zu erarbeiten, was Chwylowyjs Botschaft bedeutet, nicht nach Moskau zu blicken, sondern nach Europa. Das war Anfang der 1990er-Jahre sehr, sehr schwierig.

Änderte sich das 2014 und dann 2022?

Nun, der Kontext änderte sich radikal. Und plötzlich wollten viele Menschen etwas über ihre Identität und ihre eigene Kultur erfahren. Sie begannen, unser Museum zu besuchen und viele ukrainische Bücher zu lesen. Sie begannen, Podcasts über die ukrainische Geschichte, Literatur und Kultur zu hören. Plötzlich entdeckten die Menschen ukrainische Schriftsteller. Sie kamen zu uns, um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die Russen einmarschierten. Die Menschen suchten nach Quellen, um die Feindschaft der Russen zu verstehen. Sie suchten nach Antworten. Höchstwahrscheinlich kamen sie, weil wir darüber recherchiert hatten, wie das Imperium die ukrainische Literatur und Kultur unterdrückte.

Was haben Sie getan, als die Invasion begann?

Zuerst bereiteten wir unsere Sammlung auf die Evakuierung vor. Wir kamen ins Museum und packten bereits vor der vollständigen Invasion 2022 Kisten. Dann brachten wir unsere Sammlung in unseren Bunker. Später evakuierten wir Manuskripte, Fotos und Materialien von Künstlern, die in den 1930er-Jahren hingerichtet wurden, damit sie nicht von der russischen Artillerie zerstört werden. Wir fuhren sie aus der Stadt, während über uns Raketen flogen. Im März 2023, nach der Befreiung von Charkiw, öffneten wir wieder. Wir begannen, in den Unterständen als Museum zu arbeiten und Veranstaltungen zu organisieren.

Welche Art von Veranstaltungen?

Die erste war unsere traditionelle Veranstaltung am Internationalen Tag der Poesie. Wir übertrugen diese Lesungen aus Schutzkellern, organisierten Versammlungen und Präsentationen neuer Werke. Wir organisierten den Internationalen Museumstag im Keller einer bekannten Kunstgalerie, dem Yermolov-Zentrum. Wir benannten die Veranstaltung nach Chwylowyjs Botschaft: "Geh' weg von Moskau, geh' nach Europa." Wir haben Gedichte aus den 1920er-Jahren gelesen, wir sprachen über russische Literatur und fragten, was wir heute mit russischer Literatur machen können. Was mit Puschkin ...

Die U-Bahn-Station Puschkin und der Puschkin-Platz hier in Charkiw wurden umbenannt. Unterstützen Sie das?

Ja. Wir haben eine Ausstellung mit dem Titel "Proper Names" organisiert. Sie behandelte die Frage der Puschkinskaja-Straße, der Lermontiwska-Straße und anderer Orte. Wir wollten zeigen, dass es bei dieser Benennung nicht um Kultur geht. Vielmehr, dass das Russische Reich seine Territorien, sein Land markieren wollte. Wir haben die Motivation herausgearbeitet, die eine Wahrnehmung schaffen will, dass Charkiw, dass die Ukraine zum Imperium gehöre, ihr eigenes Land sei. Die Umbenennung dieser Straßen und Plätze schmälert also weder Puschkin noch Lermontow oder ihre Literatur. Sie stellt vielmehr die Frage, warum Straßen, Plätze und Institutionen hier nach ihnen benannt wurden.

Wie haben Invasion und Krieg die Arbeit des Museums verändert?

In der Art und Weise, wie wir Ausstellungen programmierten, in der Art und Weise, wie wir in die Stadt hinein organisierten, gab es Veränderungen. Wir haben das Format unserer Arbeit erweitert, weil wir unsere Veranstaltungen in Notunterkünften abhalten mussten. Wir leben ja immer noch viel in Schutzkellern. Und wir müssen die Kultur hier am Leben erhalten, sonst wird, wie einige Künstler sagten, die Zivilität hier verschwinden. Aber ironischerweise hat sich unser Inhalt nicht geändert. Und plötzlich wurde er sehr populär, sehr aktuell. 

Woran merken Sie das?

Menschen aus Charkiw, aus der ganzen Ukraine, kontaktieren uns, wollen mehr über die Schriftsteller der 1920er-Jahre erfahren, über die Beziehung zwischen ukrainischen und russischen Schriftstellern in dieser Zeit. Ihnen wird aufgefallen sein, dass hier in der Stadt die Leute Ukrainisch sprechen. Vielleicht ist Ihnen auch aufgefallen, dass das für viele noch immer ziemlich neu ist. Vorher sprachen wir hauptsächlich Russisch. Charkiw war immer eine sehr internationale Stadt. Jetzt verstehen wir, dass sie immer genau an der Grenze zwischen russischer und ukrainischer Kultur lag. Wir beginnen zu verstehen, dass russische Literatur zwar sehr gute Literatur sein kann, dass es sehr gute russische Autoren gibt. Aber es ist nicht unsere Literatur.

Wir sitzen jetzt in einer Ausstellung, die weit über die Idee der Literatur hinausgeht … 

Dies ist eine Installation ohne Museumsstücke. Es ist bildende Kunst. Wir begannen, mit diesem Ansatz vor der Voll-Invasion. Ich glaube, dass das Museum durch moderne Kunst mit seinen Besuchern kommunizieren kann und muss. Die Invasion hat uns dazu gebracht, diesen Ansatz weiterzuentwickeln und moderne Künstler einzuladen, die Museumssammlungen zu reflektieren. Ehrlich gesagt, wurde das Literaturmuseum früher nicht als Ort der Avantgarde der Gegenwart angesehen. Es war ein Archiv der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Wir haben zwar mit modernen Künstlern zusammengearbeitet, aber jetzt ist dieser Ort eine sehr beliebte Institution geworden. Das hat auch mit einer Haltung zu tun, die gar nichts mit dem Museum zu tun hat …

Was hat sich da geändert?

Früher hatten die meisten Menschen eine doppelte Identität, sie fühlten sich als Russen und Ukrainer. Jetzt wollen viele Menschen mehr über ihre ukrainische Identität erfahren, weil sie plötzlich eine Wahl treffen mussten. Wir werden jeden Tag von drüben beschossen, die Grenze ist 30 Kilometer entfernt. Die Menschen hier sehen unser Museum als einen Raum, in dem sie mehr über sich selbst lernen können. Und wir verstanden, dass wir mit Künstlern, die in Charkiw bleiben, an diesen Themen arbeiten müssen.

Was bedeutet das konkret?

Es gibt viele Anfragen unserer Besucher zu den 1920er-Jahren. Institutionen kontaktieren uns, Stadtführer wollen mehr wissen; wir müssen Informationen für Artikel vorbereiten. Kreative Branchen wie Modemarken kommen zu uns und fragen nach Material für ihre Arbeit. Einige haben eine neue Sammlung über die 1920er-Jahre erstellt. Verlage fragen nach Büchern und Bildern. Plötzlich werden Manuskripte gedruckt, es scheint, als würden wir plötzlich die ukrainische Kultur erarbeiten und etwas darüber lernen.

Klingt, als hätten Sie mehr Arbeit als vorher?

Viel mehr Arbeit als vorher! Es ist ein befriedigendes Gefühl. Wissen Sie, wir sind in Charkiw geblieben, um diese ukrainische Geschichte lebendig zu halten. Ich hatte große Angst. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen hier in diesem Gebäude und schützen Archivmaterial, ukrainische Geschichte, während die Russen die Stadt mit Panzern und Artillerie angreifen. Es war surreal. Und ich denke, diese Episoden werden einen wichtigen Teil unseres jüngeren kulturellen Gedächtnisses bilden. Wir müssen diese Erfahrung reflektieren; ich weiß nicht einmal, wie ich all das nennen soll. Ich frage mich, was Normalität ist, was ein normales Leben heute ist. Da sind die Routinen des Alltags, und plötzlich explodieren Bomben in einem Supermarkt. Die Leute gehen spazieren, gehen ihren Hobbys nach, legen sich zu Bett und werden getötet. Ich hatte Bilder, Vorstellungen vom Krieg aus der Kunst, aus Filmen, aus der Literatur, wie viele andere auch. Aber diese Bilder passen nicht mit der Realität zusammen. Als die Invasion, die Schießerei, die Besetzung stattfanden, war es ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Dieser Krieg ist anders als das, was die Schriftsteller des 20. Jahrhunderts über ihre Kriege schrieben. Als Menschen und als Institution müssen wir miteinander darüber sprechen, es verarbeiten. Und ja, die Rolle des Museums ändert sich.

Wie denn?

Jetzt denken wir uns Charkiw als Festungsstadt. Und tatsächlich hat der Ort eine neue Rolle, er ist nicht mehr diese offene, lebendige Universitätsstadt im Osten der Ukraine. Wir müssen lernen, dass Charkiw entweder bleiben oder verschwinden kann. Das bedeutet, dass das Museum hier arbeiten muss, damit die Stadt bleibt.