Fußball in der Kunst

"Wenn dann diese Raffinesse durchscheint"

Picasso, Malewitsch, Magritte: Das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund hat für eine immersive Ausstellung fast 200 Werke recherchiert, die das Thema Fußball auf die Leinwand bringen. Ein Gespräch mit dem Direktor Manuel Neukirchner über die Ästhetik der deutschen Mannschaft, künstlerische Perspektiven auf den Sport – und warum man beim Fußball auch gewinnt, wenn man verliert

Herr Neukirchner, lassen Sie uns zunächst über die Fußball-EM sprechen. Rein ästhetisch betrachtet: Was war für Sie bislang das schönste Spiel des Turniers, welches Team spielt den schönsten Fußball?

Das ist direkt eine schwere Frage. Also, ich bin wahnsinnig begeistert vom unbefangenen Auftreten Jamal Musialas in der deutschen Mannschaft. Musiala oder Florian Wirtz sind Typen, die individuelle Glanzpunkte setzen können. Wir erleben ja gerade eine Zeit, in der konzeptioneller Fußball gespielt wird und sehr viel von der Taktik vorbestimmt scheint. Spieler wie Toni Kroos geben den Rhythmus vor. Der ist der Architekt des Spiels, spielt die Bälle rechts und links raus und arbeitet. Aber wenn dann diese Raffinesse und Genialität durchscheint, bei Musiala oder Wirtz oder beim Türken Arda Güler – das sind die Momente, die einen packen und faszinieren.

Sie haben ja selbst einmal ein Theaterstück über das legendäre Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich bei der WM 1982 geschrieben, die "Nacht von Sevilla" mit Peter Lohmeyer und Toni Schumacher in den Hauptrollen. Gab es bislang Szenen bei der EM, die künstlerisch verewigt werden sollten?

Dramatisch war natürlich, wie der Ungarn Barnabas Varga verletzt am Boden lag. Das sind dann so Schreckmomente, wo man immer wieder merkt, wie unwichtig das Spiel ist. Das Tor der Italiener in der 98. Minute hatte auch eine besondere Dramatik. Aber diese kollektiven Momente, auf die Sie jetzt anspielen, die werden sich erst einstellen, wenn die Gruppenphase vorbei ist und sich alles zuspitzt. Die manifestieren sich erst, wenn es ab dem Achtelfinale im K.O.-System um Alles oder Nichts geht.

Für Ihre Ausstellung "In Motion" im Fußballmuseum Dortmund haben Sie über 500 Kunstwerke recherchiert, 175 sind dann in eine immersive Installation eingeflossen. Hat es Sie überrascht, wie viele Künstler sich mit dem Thema beschäftigt haben?

Wir sind total überrascht! Ich habe bei dieser Ausstellung auch mit Kunsthistorikern wie Horst Bredekamp und Marion Ackermann zusammen gearbeitet, und auch die waren total baff, was wir da für Schätze gehoben haben. Das Spektrum reicht von Picasso bis zu Malewitsch, von Paul Klee bis zu Konrad Lueg. Es sind nicht die bekanntesten Werke der Künstler, aber sie alle haben sich mit dem Sujet beschäftigt. Es gab viele Ausstellungen zum Thema Fußball und Kunst. Aber es gibt keine, die diese Verwicklungen im europäischen Zusammenhang und in dieser Tiefe aufgezeigt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht der Fußball für das Neue, für den Aufbruch, und in dieser Epoche finden wir auch die eindrücklichsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Fußball. Unsere Schau erzählt eine kleine Geschichte der Moderne.

Schauen Künstler anders auf den Fußball als Fans? Oder anders gefragt: Was wird zum Bild, was wird festgehalten?

Das ist ganz unterschiedlich. Nicolas de Staël malt im Jahr 1952 in der Folge eines Stadionbesuchs im Pariser Parc des Princes ein Gemälde, das von der überbordenden Dynamik der Farbflächen, dem Changieren von figürlicher und abstrakter Wahrnehmung lebt. Felix Nussbaum hingegen malt sein Fußball-Bild auf der Flucht vor den Nazis; der Fußball steht für ihn für die verlorene Heimat, seine Jugend. Salvador Dalí nimmt anhand von Fußballerporträts Charakterstudien vor. René  Magritte fragt in seinem Bild nach der Wahrnehmbarkeit, nach Schein und Wirklichkeit des Fußballs. Es herrscht eine ungemeine Vielfalt der Herangehensweisen.

Das Bild mit dem vielleicht markantesten Titel stammt von Joan Miró: "Ein junges Mädchen mit hellbraunen, halb roten Haaren, das auf dem Blut gefrorener Hyazinthe eines brennenden Fußballfeldes ausrutscht". Was hat es damit auf sich?

Das Bild ist ein Wahnsinn. Es ist das letzte, dass Miró gemalt hat, bevor er vor dem hereinbrechenden Krieg in die Provinz geflohen ist, und er verarbeitet darin die drohende Katastrophe. In der Komposition ist der Fußball auf den ersten Blick kaum zu erkennen, dann entdeckt man kreis- und ellipsenförmige Körper, die sich gehetzt umherbewegen. Eine Figur wird von einem großen Speer durchbohrt; das brennende Fußballfeld wirkt wie ein Schlachtfeld. Das Bild markiert eine Zäsur in Mirós Schaffen, das Ende seiner Pariser Jahre, und wurde doch bislang kaum beachtet – auch insofern bin ich wirklich froh über diese Entdeckung.

Es sind schon überwiegend männliche Künstler, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, oder?

Das ist wahr, wobei man natürlich sagen muss, dass die Kunst des 20. Jahrhunderts insgesamt sehr männerdominiert ist. Renée Sintenis schuf Fußballspieler-Bronzen. Und von Nikki de Saint-Phalle gibt es ein Fußball-Bild, das wir leider nicht zeigen können, da wir die Lizenz nicht erhalten haben. Josephine Henning, unsere Artist in Residence, die früher eine der erfolgreichsten deutschen Fußballnationalspielerinnen war und jetzt als Künstlerin lebt, hat für die Ausstellung eine neue Installation geschaffen: zwölf übergroße Schnürsenkel in sehr vielfältigen Farben an der Außenfassade des Museums, die miteinander verbunden sind.

Wir haben jetzt vor allem über die schönen Seiten des Fußballs gesprochen. Aber der Sport hat ja auch seine Schattenseiten: Rassismus, Hooligangewalt, Frauen- und Schwulenfeindlichkeit. Sind das auch Themen, die in der Ausstellung zur Sprache kommen?

Ja. Diskriminierung, Kommerzialisierung und Gewalt spielen genauso eine Rolle wie das Thema Geschlechtergerechtigkeit. Unsere Schau setzt ja mit der Moderne im späten 19. Jahrhundert an, da gehören natürlich auch die Themen Fußball und Nationalismus, Fußball und Krieg, Fußball und Vernichtung dazu.

Der Fußball hatte traditionell auch immer diese proletarische Note, was ihn von der Kunstwelt, die als elitär gilt, unterscheidet. Lag darin auch ein Faszinosum für die Künstler?

Das stimmt so nicht, denn ursprünglich war der Fußball ein bürgerliches Phänomen. Er wurde an bürgerlichen Schulen gespielt. Mit der Industrialisierung wurde der Sport dann von den Arbeitern entdeckt – gerade auch hier im Ruhrgebiet oder in den englischen Bergbaugebieten. Da ging es dann um Zusammenhalt, um Solidarität, unter Tage und über Tage. L.S. Lowry ist ein Künstler, der dieses Thema besetzt hat, er zeigt in seinen Bildern die Arbeiterschaft in Manchester, für die das Stadion der letzte Zufluchtsort ist. Seine Bilder zeigen dieses ewige, pilgergleiche Strömen in die Stadien, das alle verbindet, über alle Milieus hinweg. Dieses Entfliehen vom Alltag in die Welt des Fußballs. Das macht schon was mit einem, wenn man diese Bilder sieht. Also für mich ist Lowry Gänsehaut.

Macht die heutige Kommerzialisierung den Fußball kaputt?

Natürlich hat der Fußball sich verändert. Schon in den 60er-Jahren, als die Bundesliga eingeführt worden ist, hat man den Tod des Fußballs prognostiziert. Und neben der Kommerzialisierung muss man natürlich auch die Gewaltspirale sehen, die Frauenfeindlichkeit, den Rassismus, die Homophobie. Alle negativen Phänomene der Gesellschaft kann man wie in einem Brennglas vergrößert auch im Fußball finden. Und dennoch muss man sagen: Gucken Sie sich die Europameisterschaft und die Stimmung in diesem Land an! Wie die Menschen aus allen Ländern nach Deutschland kommen und hier friedlich feiern! Das ist in allen Städten wunderbar zu sehen, wie der Fußball dann doch wieder verbindet. Und diese Augenblicke im Stadion, das Unvorhersehbare, das von einer Sekunde auf die andere passieren kann: das ist so stark und macht bis heute die Wirkmacht des Fußballs aus. Es fasziniert die Menschen einfach.

Und die Schotten feiern auch noch, wenn sie verlieren.

Ja, absolut, man fühlt sich auch noch in der Niederlage vereint! Fußball ist ein gesellschaftlicher Kitt. Das finden wir im Vereinsfußball genauso wie in der Nationalmannschaft. Er hat diese integrative Kraft, die sich bei allem Negativen dann doch immer wieder durchsetzt.

Die entscheidende Frage zum Schluß: Wer wird Europameister?

Deutschland natürlich! Ich habe das Gefühl, dass diese Mannschaft gerade das ganze Land begeistert. Weil sie nicht nur konzeptuell spielt, sondern immer wieder ausbricht, das ist eben das Schöne. Aber ich sage Ihnen auch ganz offen: Wenn die Europameisterschaft zu Ende geht, und wir wirklich am Ende sagen können: Wir haben eine friedliche, bejahende Europameisterschaft in unserem Land erlebt, dann bin ich auch schon glücklich. Dass man gerade in dieser Zeit voller Krisen und Kriege mal abschalten kann, dass in Zeiten der Polarisierung alle mal kurz von Wut auf Euphorie umschalten, wenn die deutsche Mannschaft einen tollen Fußball spielt, wenn sie in der Öffentlichkeit weltoffen auftritt, so wie sie es auch gerade tut: Dann gewinnen wir die Europameisterschaft in jedem Fall, und sei es nur als Meister der Herzen.