Mongolische Gegenwartskunst

In die Weite

Gegenwartskunst aus der Mongolei ist gerade sichtbar wie selten zuvor. Im Sommer tauschten sich dort einheimische und deutsche Kunstschaffende in Art Camps aus. Unsere Autorin war zwischen Geisterbeschwörung und Aufbruch dabei

Es ist dunkel. Alles, was man hört, sind Trommelschläge und tranceähnliche Gesänge, die sich mit der Zeit zu fieberhafter Raserei steigern. "Obertongesang", sagt jemand leise. Es ist eine einzige Person, eine kleine Frau mit dunklem Haar und üppigem Kopfschmuck, die diese Töne erzeugt: ein dunkles Brummen und eine höhere, scheinbar darüber schwebende Melodie. Rund 20 Personen haben sich im Schein eines kleinen Lagerfeuers um sie versammelt. Die meisten sitzen andächtig im hohen Gras, dann stehen sie langsam auf, einer nach dem anderen, und nehmen ein bis zum oberen Rand mit Milch gefülltes Gefäß entgegen. Nach einem kurzen Murmeln schleudern sie den Inhalt in die Luft: Opfergaben an die Geister.

Das schamanische Ritual findet im Khögnö-Khan-Nationalpark statt, elf Kilometer von der Hauptstraße zwischen der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar und Karakorum entfernt. Einst war letzteres ein Zentrum der Welt: Im Mittelalter, als Dschingis Khan mehr war als nur ein sehr tanzbarer Song der gleichnamigen Schlagerband, erkor der Gründer des Mongolenreichs den Ort am Ufer des Flusses Orchos als sein Lager aus. Sein Sohn Ögedei ließ an dieser Stelle eine Stadt errichten, die zu einem wichtigen Knotenpunkt an der Seidenstraße und zur Hauptstadt des florierenden mongolischen Reichs wurde. 

Bei Tageslicht ist davon nicht mehr viel übrig: Die Stadt verfiel endgültig im späten 16. Jahrhundert; mittlerweile erinnert an ihre Blütezeit nur noch das buddhistische Kloster Erdene Dsuu, welches nachweislich zum Teil aus den Steinen des alten Karakorum gebaut wurde.

Art Camps in Süddeutschland und der Bulgan-Provinz Mongolia

Lässt man den Blick wandern, sieht man in dieser Region heute vor allem eines: Steppe. Die Mongolei ist der weltweit zweitgrößte Binnenstaat und flächenmäßig viermal so groß wie Deutschland. Ein Großteil der Fläche wird für die nomadische Weidewirtschaft genutzt. Dabei zählt das im Norden an Russland und im Süden an China grenzende Land gerade einmal 3,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner – durchschnittlich zwei Personen pro Quadratkilometer. 

Bis heute hat die Tradition des Nomadentums in der Mongolei Bestand, auch wenn mittlerweile knapp die Hälfte der Bevölkerung im Großraum Ulaanbaatar wohnt. Viele Mongolinnen und Mongolen, die heute in der Stadt leben, erinnern sich noch an das nomadische Leben, das sie als Kinder bei ihren Großeltern führten, während es die Eltern bereits für die Arbeit in die Urbanität verschlug.

Badam Dashdondog, die Mittlerin zwischen der sichtbaren Welt und der Sphäre der Geister, ist nicht nur Schamanin, sondern auch Künstlerin. Die 1960 geborene Mongolin erhielt ihre malerische Ausbildung an der School of Fine Arts in Ulaanbaatar, bevor sie 2010 zur Performance-Kunst wechselte. Sie ist Teil einer Gruppe von deutschen und mongolischen Künstlerinnen und Künstlern, die in den Monaten Juni bis August für Art Camps im oberfränkischen Mürsbach und in der Steppe der mongolischen Bulgan-Provinz zusammenkamen, um sich vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund über Naturerfahrung und Nachhaltigkeit, Spiritualität und Genderfragen auszutauschen.

Sichtbarkeit für mongolische Gegenwartskunst

Zeitgenössische künstlerische Positionen aus der Mongolei sind gerade so sichtbar wie selten zuvor: Die Kunsthalle Düsseldorf zeigt mit "Heilung der Erde" eine in Kooperation mit dem Dschingis Khan National Museum entstandene Ausstellung, die mongolische Gegenwartskunst in den Fokus rückt. In den Räumlichkeiten von TheGallery in Mürsbach treffen – teils im Rahmen des Art Camps entstandene – Arbeiten mongolischer Künstlerinnen und Künstler auf die Werke deutscher Kunstschaffender wie Franz Ackermann, Heike Baranowsky, Karl Heinz Jeron, Simone Körner, A. R. Penck und Nadine Rennert.

Anlass der Künstlerprojekte und der beiden Ausstellungen ist das 50-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Mongolei; die enge Verbindung der beiden Länder reicht bis in die 1920er-Jahre zurück. Aber der Trend machte sich auch schon zuvor auf internationalen Kunstschauen wie der Documenta 14 und der Venedig-Biennale bemerkbar, wo mongolische Künstlerinnen und Künstler wie Baatarzorig Batjargal und Gerelkhuu Ganbold vermehrt in den Fokus der internationalen Kunstwelt rückten.

Auch die 1982 in Ulaanbaatar geborene Künstlerin Nomin Bold war 2017 in Kassel vertreten; im Naturkundemuseum Ottoneum stellte sie unter anderem ihre Arbeit "One Day of Mongolia" (2017) aus. Das Werk kann als Referenz auf das gleichnamige, zwischen 1912 und 1913 entstandene Gemälde des mongolischen Malers Balduugiin "Marzan" Sharav verstanden werden, das sich im Zanabazar Museum in Ulaanbaatar befindet. Marzan Sharavs Version gleicht einem Wimmelbild in bester Hieronymus-Bosch-Manier: Über 300 Personen tummeln sich auf dem mit mineralischen Pigmentfarben bemalten Stoff, gehen alltäglichen Aufgaben nach, stellen Filz her, fällen Holz, züchten Pferde. Sie heiraten und haben Sex, gebären Kinder und wohnen Beerdigungen bei.

Bewahrung des kulturellen Erbes

Der 1869 geborene und 1939 verstorbene Marzan Sharav ist ein wichtiger Vertreter des Mongol Zurag, einer künstlerischen Bewegung, die in der Zeit des Kalten Krieges entstand. Ausgelöst durch die Ausrottung der buddhistischen Kultur durch die sozialistische Regierung zugunsten des sozialistischen Realismus, visualisieren sich im Mongol Zurag die intensiven Debatten über die mongolische nationale Identität und die Bewahrung des kulturellen Erbes. Die Bewegung kann als eine der ersten einheimischen künstlerischen Ausdrucksformen der mongolischen Kunst verstanden werden.

Bis heute arbeiten sich zahlreiche zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler an dieser Tradition ab, haben jedoch eigene Wege gefunden, die tradierten mongolische Symbole und Motive mit einer aktuellen Narration zu verbinden. In den Ausstellungen in Düsseldorf, Mürsbach und Ulaanbaatar, die den Abschluss des mongolischen Art Camps bildete, aber auch in der Sonderschau "Mongol Zurag: The Art of Resistance" auf der diesjährigen Venedig-Biennale, wird deutlich, wie globale Themen wie Klimawandel und der Umgang mit neuen Technologien die Arbeiten prägen. 

Baatarzorig Batjargal und Urjinkhand Onon beispielsweise reflektieren über den Neoliberalismus und den allgegenwärtigen Einfluss der globalen Populärkultur, Inhaftierung und Smartphone-Sucht; Gerelkhuu Ganbold schöpft für seine ultrafeinen Zeichnungen aus den Dämonen der traditionellen Zurag-Malerei, wie sie auch auf lamaistischen Thangkhas zu sehen sind, um Kritik an den aktuellen politischen Verhältnissen seines Landes zu üben.

"Eine der größten Bedrohungen für die Zukunft der Mongolei"

In den Arbeiten von Nomin Bold hingegen braucht es keine uralten Symbole, um auf gegenwärtige Missstände aufmerksam zu machen. Für ihre Installation "Oron" (2023) hat sie im Ausstellungsraum in Mürsbach bunte Gasmasken auf Mistgabeln aufgespießt. Die auf den ersten Blick so fröhlich wirkende Arbeit ist erschreckend aktuell, wenn man sich das Problem der Luftverschmutzung in Ulaanbaatar ansieht. "Sie stellt eine der größten Bedrohungen für die Zukunft der Mongolei dar", so Stephanie Burri, IZA-Chefin in der mongolischen Hauptstadt.

Das Problem der giftigen Luft wächst mit der Stadt, deren Bevölkerung sich seit 1990 fast verdreifacht hat. Jedes Jahr sterben in der Mongolei 300 Menschen an Krankheiten, die durch den Smog ausgelöst werden, darunter 240 Kinder unter fünf Jahren.

Gerade in den Wintermonaten, wenn die Temperaturen bis auf -45 Grad Celsius sinken können, ist die Feinstoffbelastung hier extrem: Jährlich übersteigt der Durchschnittswert der PM2,5‑Konzentration den WHO-Richtlinienwert um das Sechs- bis Zehnfache; in den Wintermonaten erreichen die Werte auch mal das Acht- bis 14-Fache. Verantwortlich für den Großteil der Luftverschmutzung sind die rund 600.000 Tonnen Rohkohle, die während der kalten Jahreszeit im nördlichen Ger-Distrikt der Hauptstadt zur Wärmegewinnung und zum Kochen in den Öfen verbrannt werden – aber auch die oft ungenügend isolierten Wohnungen werden mit Kohleheizungen gewärmt.

Übernatürliche, schöpferische Kräfte

Dass die Kunsthalle Düsseldorf Joseph Beuys als Schirmherrn ihrer Ausstellung auserkoren hat, ist wenig verwunderlich: Der Künstler sah sich bekanntlich als Schamane im Reich der Kunst. Die Legende, dass ihn Tataren nach einem Flugzeugabsturz auf der Krim aus der zerstörten Maschine gerettet und mithilfe von Fett und Filz am Leben erhalten hätten, ist allerdings zweifelhaft. Wahrscheinlicher ist, dass er in ein mobiles Militärlazarett gebracht wurde – und die Geschichte als zentrale Komponente seiner Inszenierung frei erfunden ist.

Überraschender ist da die Verbindung zu A. R. Penck, die der Kurator und Künstler Thomas Eller in seiner Schau "Die Post-Nomadische Erfahrung" in der alten Wassermühle in Mürsbach herstellt: Der Künstler wurde 1980 von der DDR ausgebürgert, später wurde er im Westen mit seinen Arbeiten bekannt, in denen er eine post-kommunistisch zerfasernde Welt in Zeichensysteme überführt. 

In Werken wie "Sie (Rot-Gelb) II" (1992) drängen sich Verbindungen zu mongolischen Mythen und dem Nomadentum auf. Aber auch in den zeitgenössischen Arbeiten wie den "Mind Maps" von Franz Ackermann und den Skulpturen der Berliner Künstlerin Nadine Rennert wird deutlich: Hier brodeln übernatürliche, schöpferische Kräfte und Energien der ostasiatischen Kultur.