2019 bröckelten Gewissheiten in der deutschen Kunstgeschichte. Besonders zwei Ausstellungen zur Rolle der Expressionisten in der NS-Zeit rüttelten am Mythos von der widerständigen Moderne
Nichts ist fix in der Kunstgeschichte. Die vormals Vergessenen werden wiederentdeckt, einst Überhöhte vom Sockel gestoßen oder in die zweite Reihe verwiesen. So weit, so üblich in der Kunst- und Geschichtswissenschaft sowie im Kulturbetrieb. Aber 2019 war ein besonderes Jahr. Das Bild der deutschen Moderne hat tiefe Kratzer abbekommen.
Vor allem die Schau "Emil Nolde - Eine deutsche Legende" in Berlin wurde zum Politikum, spätestens als Angela Merkel zwei Gemälde des einst gefeierten Emil Nolde aus ihrem Arbeitszimmer verbannte. Und die Bilder eines weiteren Expressionisten, Karl Schmidt-Rottluff, der Kanzlerin von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ersatzweise angeboten, wollte Merkel auch nicht an der Wand haben.
Was war passiert? Die Wissenschaftler Bernhard Fulda und Aya Soika kuratierten nach vier Jahren Quellenforschung in der schleswig-holsteinischen Nolde-Stiftung die genannte, im April eröffnete Ausstellung am Hamburger Bahnhof. Nolde, das trat hier schärfer zutage als je zuvor, war glühender Nationalsozialist bis (mindestens) zum Kriegsende, obwohl die NS-Kunstdoktrin seine Werke als "entartet" abgestempelt hatte.
Vertreibung vom Kunst-Olymp
Die Ausstellung rüttelte am Nachkriegs-Narrativ, dass Avantgardekünstler die besseren Menschen sind. Außerdem wurden Noldes Werke nun ideologiekritisch unter die Lupe genommen - und nicht wie lange geschehen unter rein ästhetischen, formalen Gesichtspunkten in den Kunst-Olymp gehoben.
Ebenfalls im April sorgte das Berliner Brücke-Museum mit der Ausstellung "Flucht in die Bilder?" für Irritationen: Künstler der "Brücke" (deren Mitglied Nolde wenige Monate in 1906/07 war) waren dem Nazi-Regime gegenüber zumindest nicht so standhaft, wie es ihren Hagiografen zupass kam. Aya Soika war auch hier als Kokuratorin beteiligt, neben der Brücke-Museumsdirektorin Lisa Marei Schmidt und Meike Hoffmann. Die Wissenschaftlerinnen stehen für eine neue Generation, die auf Kontextualisierung setzt und alte Gewissheiten hinterfragt.
Getrübt ist inzwischen auch die Freude an der ersten Documenta von 1955, seit ein Symposium im Deutschen Historischen Museum (DHM) - einmal mehr fand die Entweihung in Berlin statt - den Nimbus der Kunstschau als dezidiertes Gegenprogramm zur NS-Kunstpolitik bezweifelte. Bernhard Fulda, der im April schon dem Nolde-Denkmal einen heftigen Stoß versetzt hatte, sprach im Zusammenhang mit der Documenta I von "Heldenverehrung und Künstler-Führerkult".
Eine neue Ambivalenz
Die Idee der Premieren-Documenta als Anti-"Entartete Kunst"-Schau ist wohl schon deshalb fragwürdig, weil ausgerechnet das Schaffen der Juden Max Liebermann, Felix Nussbaum und Otto Freundlich in Kassel ignoriert wurde. Ein Skulpturenkopf von Freundlich, der wie Nussbaum im Holocaust ermordet wurde, hatte 1937 das "Entartete Kunst"-Katalogcover geziert.
Durch die Neubetrachtung der Kunsthelden - und die emotionalen Reaktionen darauf - wurde einmal mehr deutlich, dass die Erzählung der "Stunde Null" nach dem zweiten Weltkrieg und der Avantgarde als kollektive Gewissensberuhigung noch sehr präsent ist. Am Ende von 2019 hat sich das Bild verkompliziert. Es kann nicht um die Frage gehen, ob Nolde oder andere deutsche Expressionisten nun in den Giftschrank gehören. Vielmehr entsteht eine Ambivalenz, die es auszuhalten und weiter auszuleuchten gilt. 2019 war ein Jahr, das die Zweifel schürte. Die Wand in Angela Merkels Büro soll übrigens vorerst leer bleiben.