Dass der US-Designer Kerby Jean-Raymond mit Mode Politik machen kann, hat er hinreichend bewiesen. In seinen Shows für das von ihm gegründete Label Pyer Moss thematisierte er rassistische Polizeigewalt und die "Black Lives Matter"-Bewegung, mit der Initiative "Your Friends in New York" will er vor allem schwarzen Künstlerinnen und Künstlern einen Einstieg in die Modebranche ermöglichen, die noch immer ziemlich weiß und westlich geprägt ist. Als US-Vizepräsidentin Kamala Harris im Januar am Vorabend ihrer Vereidigung einen Mantel von Pyer Moss trug, war das ein ziemlich offensichtliches Zeichen für einen angestrebten Stilwechsel im Weißen Haus.
Nun wurde Jean-Raymond als erster afroamerikanischer Designer eingeladen, eine Kollektion bei der Paris Haute-Couture-Fashion-Week zu zeigen, allerdings fand die Schau im Bundesstaat New York und mit zwei Tagen Verspätung wegen Tropensturm Elsa statt. Auf den ersten Blick waren die Entwürfe eine bunte, Pop-Art-inspirierte Würdigung von Alltagsgegenständen. Eiscreme-Waffeln dienten als Overknee-Stiefel, Lockenwickler als Mantelbesatz, Lampenschirme als Hut und ein Glas Erdnussbutter als eine Mischung aus Rüstung und Cocktailkleid, die an Andy Warhols exzessiven Gebrauch der Campbell's-Suppendose erinnert. Eigentlich war die ganze Kollektion eher eine Ansammlung tragbarer Skulpturen als realistische Outfits für rote Teppiche und andere besondere Gelegenheiten.
Neben der Couturisierung der Konsumkultur ging es bei den "What U Iz" betitelten Entwürfen jedoch auch um verdrängte amerikanische Geschichte. Denn alle vorgeführten Objekte verweisen auf schwarze Erfinderinnen und Erfinder, die beim Aufzählen historischer Persönlichkeiten der Vereinigten Staaten gern vergessen werden. Das Erdnussbutter-Kleid ist dabei eine Hommage an den Landwirt und Wissenschafter George Washington Carver (etwa 1864-1943), der als Sohn von Sklaven geboren wurde und später am Tuskegee Institute in Alabama unterrichtete. Laut der Smithsonian Institution hat Carver die Erdnussbutter zwar nicht erfunden (etwas Ähnliches gab es schon bei den Inkas und Azteken), aber er machte den Anbau der Erdnuss-Pflanze in den USA populär und dachte sich etliche andere Verwendungen dafür aus (Butter aus Erdnussmilch, Instant-Kaffee, Fleischersatz, Seife). Passend zum Thema der Kollektion fand die Präsentation in Irvington am Hudson River in der ehemaligen Villa von Madam C.J. Walker (1867 - 1919) statt, einer frühen Beauty-Mogulin und der ersten schwarzen Selfmade-Millionärin der USA.
Schwarze Cowboys und die Erfinderin des Rock'n'Roll
Für Pyer Moss ist der Fokus auf schwarze Alltagskultur nichts Neues, die Haute-Couture-Präsentation dürfte jedoch die bisher stärkste Reichweite generiert haben. In seinen drei letzten Kollektionen widmete sich Jean-Raymond der US-Popgeschichte aus der Sicht der schwarzen Community. "American, Also" heißt die Serie, in der die Kreativität und der Einfluss Schwarzer Menschen auf die Geschichte Amerikas neu gewichtet werden soll. Die einzelnen Episoden nannte Jean-Raymond "Lessons".
Das Projekt begann 2018, als es um die Geschichte der schwarzen Cowboys des 19. Jahrhunderts ging. Die Kollektion im September des gleichen Jahres trug den Titel "Normal" und erzählte die Erlebnisse der durchschnittlichen schwarzen Familie in Amerika. Hier kollaborierte Pyer Moss mit dem Künstler Derrick Adams. Zehn von dessen Malereien übersetzte Jean-Raymond als Print auf seinen Designs, sie zeigen Szenen der Freizeitgestaltung der schwarzen Community: gemeinsames Grillen, draußen sitzen - ganz normal und doch mit Mission. "Wir werden daran arbeiten, die Kluft zwischen Mode, Kunst und Menschlichkeit zu schließen" sagte Jean-Raymond. "American, Also; Lesson 3" heißt "Sister" und betrachtet das Werk von Sister Rosetta Tharpe, einer Musikerin, die den Rock’n’Roll erfand, was ihr in dem Sinne jedoch nie zugeschrieben wurde. Auch die aktuelle Couture-Schau formulierte bei all ihrer warholigen Popigkeit eine eindeutige politische Message: Als Eröffnung sprach das ehemalige "Black-Panthers-Mitglied" Elaine Brown.