Der dicke Nebel hat alles verschluckt, Berge, Bäume, Gras. So eine Suppe sei selten in ihrem Tal, sagt Miriam Cahn. Die milchige Wand blockiert sogar die Sicht zur Durchgangsstraße direkt am Atelierfenster. Die Straße führt von St. Moritz herunter weiter nach Ponteggia hinter der italienischen Grenze. Seit Kurzem lebt die Künstlerin ganz hier in Stampa, einem stillen Dorf im schweizerischen Graubünden.
Das Bergell, so heißt das Alpental, kennt die 1949 in Basel geborene Künstlerin schon seit Kindertagen. Wo die Familie früher Urlaub machte, hat sie vor Jahren eine Hütte bezogen. Im Frühjahr 2016 wurde der große Atelierneubau fertig, der ihr altes Studio in Basel inzwischen ersetzt hat.
Eine Rampe – "für den Fall, dass ich mal im Rollstuhl sitze" – schlängelt sich von der Straßenseite um die Ecke zur signalroten Eingangstür, durch die auch größte Keilrahmen passen. "Die rote Tür hat Alberto Giacometti gestrichen", erzählt Cahn lächelnd. Der Verwandte des berühmten Künstlers, Fachmaler vor Ort, finde es nicht so witzig, Namensvetter zu sein. Der große Giacometti ist in Stampa geboren. "Im Bergell wohnen lauter Giacomettis", sagt Cahn.
Man war mit Kokoschka befreundet
Sie selber hat keinen legendären Künstler im Stammbaum, ist aber in einer kunstaffinen Familie aufgewachsen. Ihr Vater war Kunsthändler, die Mutter zeichnete mit Leidenschaft. Man war mit Künstlern wie Oskar Kokoschka befreundet, dessen Farbstifte die kleine Miriam benutzen durfte, wenn man die Kokoschkas am Genfersee besuchte. "Das war natürlich toll", sagt Cahn. Als sie später fest entschlossen war, Künstlerin zu werden, kühlte das Verhältnis zum greisen Expressionisten ab: "Er dachte wohl, Frauen hätten in der Kunst nichts zu suchen."
Was für ein Irrtum! Schon in den 80ern wird die feministische Künstlerin über die Schweiz hinaus bekannt, vertritt ihr Land 1984 auf der Venedig-Biennale, präsentiert dort ihren gezeichneten Bilderfries "Das wilde Lieben".
Dass ihr verglichen mit anderen Künstlerinnen ihrer Generation – Marina Abramović, Valie Export, Cindy Sherman, Rosemarie Trockel – danach nicht die ganz große Karriere glückte, hat viel mit dominierenden Männern auf dem Kunstmarkt zu tun, mit Cahns kraftvoll-konsistentem Werk hingegen sicher nichts.
Malerin? Künstlerin!
Wenn man sie eine "Malerin" nennt, reagiert sie ungehalten: "Künstlerin!" Zwar scheinen ihre farbglühenden Gemälde aus jüngerer Produktion dafür verantwortlich zu sein, dass sie mit Soloschauen in Aarau und Kiel „wiederentdeckt“ wurde. Aber das täuscht. Miriam Cahn zeichnet, arbeitet mit Holz, schreibt experimentelle Texte. Allein mit den wuchtig-performativen Zeichnungen – "Ich war immer ganz schwarz vom Kohlestaub" – ist es wohl vorbei, weil Cahns Rücken nicht mehr mitmacht.
Sie stellt neue Gemälde an die Atelierwand. Farben leuchten, Blicke brennen. Vor allem Menschen fixieren den Betrachter, aber auch Tierfiguren oder Mischwesen. Auf kleinere Holzplatten hat Cahn Köpfe gemalt. Manche schauen angstvoll über die Schulter, als würden sie verfolgt. Auf den größeren Ölbildern sind Figurengruppen zu sehen, Personen in unablässiger Bewegung. Nackte Menschen durchqueren weite, unbehauste Bildräume. Mütter zerren ihre Kinder durch Farbwüsten. Oder das andere Extrem: Figuren stehen still wie in Schockstarre, wie angewurzelt da. Dabei möchte auf den unheimlichen Gründen dieser Bilder wohl niemand Wurzeln schlagen.
Man fühlt sich immer ein bisschen anders
Daneben malt Cahn immer wieder Häuser – wie einen Traum von vier Wänden. Durch die milchigen Wände des Bildes "bauen, 05.12.2015" schimmert das Innere des Gebäudes. Menschen tauchen auf den Häuserbildern nicht auf. Wer Schutz sucht, findet keinen. Die Menschen, die Miriam Cahn malt, scheinen nicht einmal im eigenen Körper zu Hause zu sein. "Das Körperbewusstsein ist ja nicht statisch", sagt Cahn, "man fühlt sich immer ein bisschen anders." Sie malt Leiber und Gesichter in unablässiger Transformation. Arme enden in Stümpfen. Wo doch Hände sind, schmelzen sie wie heißes Wachs. Oder sie erstarren in frostigem Blau.
Cahn verfügt über ein verblüffendes Zeichenrepertoire. Picasso, der sich unablässig neu erfand, zählt zu ihren Favoriten in der Kunstgeschichte: kein Wunder. Die Skala ihrer Möglichkeiten reicht von naturalistisch bis zeichenhaft. Extrem reduziert ist die Kreatur im Öl-Kleinformat "unheimlich, 05.01.2008". Zwei violette Arme zappeln am unteren Bildrand, drei Rechtecke umschließen oder zerdrücken die fragmentarische Figur. Ein Grabmal? Eine Unfallsituation? Man weiß es nicht. Das erzromantische Abendrot über der rudimentären Szene sorgt für einen bestürzenden Kontrast. Cahn ist die Meisterin derart dubioser Stimmungen.
Menschen wie du und ich
Was sind das für Menschen? "Menschen wie du und ich", entgegnet die Künstlerin. Auch ihr eigener Körper taucht unter den Erstarrten und Flüchtenden auf. Ob sie sich selbst malt oder andere, ist in dieser Welt flüchtiger Erscheinungen letztlich wohl egal. Auch die gemalten Köpfe sind weniger Porträts als existenzielle Studien. Ein Gesicht starrt aus leeren schwarzen Augenhöhlen. Eine Beinahe-Totenmaske, die dicke weiße Ölfarbe zu schwitzen scheint. Cahn dreht das Kleinformat um, der Aufschrift nach hat sie Michael Fassbender "im TV gesehen" und seine Figur aus Steve McQueens Sexsuchtdrama "Shame" gemalt.
Den Filmstar erkennt man nicht gleich, den Getriebenen sofort. Das Flüchtlingsthema, das ihre künstlerische Agenda bestimmt, hat sich Cahn – selbst Tochter eines Emigranten – spätestens mit dem Balkankonflikt aufgedrängt. Nach dem Mauerfall begann Europa zwar zusammenzufinden. "Für die Krise gerüstet war man aber nicht", sagt sie. "Wenn ich von einer europäischen Gemeinschaftsarmee sprach, wurde ich unter Feministinnen als Militaristin beschimpft."
Die Bürgerkriegsflüchtlinge kamen (vor allem nach Deutschland, wenige in die Schweiz), heute versuchen sich Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea nach Europa zu retten. Cahns Bilder fragen nicht nach Herkunft, sie zeigen nackte Angst, Verzweiflung, Hoffnung und Gewalt. "Ich lehne Gewalt ab", stellt sie klar. "Aber ein radikales Bild ist etwas anderes. Ich rege ja nicht zum Handeln an, sondern zum Denken."
Das Schöne im Schrecklichen
Die Schaulust kennt keine Moral. Das Schöne im Schrecklichen will gemalt werden. Cahn engagiert sich in den 80ern in der Friedensbewegung. Gleichzeitig malt sie traumhaft schöne Atombombenexplosionen. Auf feuchtem Papier trägt die Künstlerin Wasserfarben von unten nach oben als Querstriche auf. Die Farbe läuft herunter, ein Atompilz erscheint am oberen Blattrand, radioaktiver Fallout scheint sich den Weg nach unten zu bahnen.
Die brutal dreinschlagende Faust ist ein wiederkehrendes Motiv ihrer Bilder, seltener kommen Waffen vor. "Requisiten sind eine Ausnahme", sagt Cahn, als sie auf das Hochformat eines nackten, mit einer Keule bewehrten Mannes deutet. Sein Gesicht ist wattig verunklart, nur die Augen blitzen hervor. Ein vermummter Rechtsradikaler? Ein islamistischer Terrorist? Das liegt im Auge des Betrachters. Cahn nimmt solche Lesarten hin, legt es aber nicht auf Zuspitzungen an.
Das politische Potenzial von Bildern
Politkunst findet Cahn furchtbar. Doch wenn ihre Werke einen Nerv treffen, fühlt sie sich bestätigt: "Als ich meine Ausstellung für die Kunsthalle Kiel vorbereitete, machte nur wenige Kilometer entfernt Dänemark die Schengen-Grenze zu Deutschland dicht. Bei solchen Zufällen spürt man das politische Potenzial von Bildern."
Ihr Handwerk hat sie zwischen 1968 und 1973 auf der Kunstgewerbeschule in Basel gelernt. Sie zieht einen x-beliebigen Kunstband hervor und deutet auf die Titelschrift: "Wer einmal gelernt hat, die Buchstaben der Univers präzise von Hand nachzuzeichnen, der kann alles lernen."
Aber vom Akademiewesen hat sie keine hohe Meinung, Kunsthochschulen verabscheut sie. "Und hören wir auf, von Technik zu reden", poltert die Künstlerin, "das verstellt den Blick auf die Bilder."
Womöglich hat sie recht: Energie und Durchsetzungswillen gehören zum künstlerischen Rüstzeug, so wie die technischen Fertigkeiten. Doch wer soll einem den Willen beibringen, wenn er nicht Teil der Persönlichkeit ist?
Erst Polizeirevier, dann Kunsthalle
Stur war sie schon immer. 1979 tobt sie sich mit Graffiti und Texten auf der Baustelle einer Baseler Autobahnbrücke aus, in einer Nachtund-Nebel-Aktion, der sie den Titel "mein frausein ist mein öffentlicher teil" gibt. "Als ich dann von der Polizei erwischt wurde, wurde es wahnsinnig lustig", erzählt Cahn. Zwei Polizisten müssen ihretwegen am Weihnachtsabend Dienst schieben. Sie legen ein Pornoheft auf den Stuhl, damit die über und über mit schwarzem Kreidestaub bedeckte Künstlerin Platz nehmen kann.
Auch das Gerichtsverfahren wird zur Farce. Cahn soll ihre Tat bereuen, muss dem Richter aber zunächst den Unterschied zwischen Acrylspray und ihrer Kreide erklären, die ohnehin bald vom Regen abgewaschen wird. Die Künstlerin wird zu einer Geldbuße von 250 Schweizer Franken verurteilt, vor allem aber wird Jean-Christophe Ammann, damals Chef der Kunsthalle Basel, auf sie aufmerksam. 1981 stellt Ammann Cahn im Rahmen einer Gruppenschau in der Kunsthalle aus.
Im Jahr darauf wird sie zur Documenta nach Kassel eingeladen. In einem für sie reservierten Kabinett spannt sie ihre Zeichnungen "Wach Raum II" auf, die Geschlechterklischees ausbuchstabieren. Bett, Haus, Ofen gehören zur Frau, Flugzeug oder Panzer zum Mann. "Es ging damals darum, zunächst zu klären, was weiblich, was männlich konnotiert ist – um diese Stereotypen irgendwann auflösen zu können", erklärt Cahn ihr feministisch motiviertes Raumkonzept. "14 Tage nach der fix und fertigen Raumkonzeption hängt das Personal plötzlich einen Teil der Arbeiten ab", erzählt sie.
Der Documenta-Leiter nennt sie "hysterisch"
Documenta-Leiter Rudi Fuchs hat bestimmt, dass sie sich den Raum mit einem Kollegen teilen sollte. Nicht mit ihr. Cahn entfernt ihre Werke ganz aus der Ausstellung. "Man konnte die Blätter ja leicht transportieren", sagt sie. Andere, ebenso vor den Kopf gestoßene Kollegen hätten so kurz vor der Eröffnung nicht mehr reagieren können. "Auf der Pressekonferenz nahm ich meinen Mut zusammen und forderte eine Erklärung von Fuchs." Sie wird vom Direktor vor aller Öffentlichkeit als "hysterische Neurotikerin" abgekanzelt.
2017 kehrte Cahn zur Documenta zurück. Während sie in der neuen Documenta-Stadt Athen ihre aktuelle Malerei zeigte, waren in Kassel eben jene "Wach Raum"-Zeichnungen zu sehen, mit denen 1982 so respektlos umgesprungen wurde. Documenta-Leiter Adam Szymczyk wollte vor Ort die Geschichte der Großausstellung aufarbeiten – einschließlich eklatanter Fehlentscheidungen der Vergangenheit.
Auf Augenhöhe mit den Bildern
Aber im Fall von Miriam Cahn geht es sicher nicht nur um Wiedergutmachung.Die Künstlerin freut sich darüber, dass sich Szymczyk ohnehin für ihr Werk begeistert. "Er sagt, dass ich wie eine Schriftstellerin arbeite, von Wort zu Wort und Satz zu Satz", sagt Cahn. "Das trifft es genau." Malerfürstlich an Meisterwerken tüfteln wäre das Letzte, was ihr einfiele. Sie malt schnell, meistens ein Bild pro Tag. Kaum zu glauben: Die tägliche Arbeitsphase dauert etwa drei Stunden.
Wie sie das macht? Sie kann es eben. Ihre Kieler Soloschau trug den Titel "Auf Augenhöhe". Er rührt an den Kern ihrer Auffassung. Die Bilder sind für sie gleichwertig, die dargestellten Menschen sowieso. Die große Retrospekive im Münchner Haus der Kunst heißt "Ich als Mensch." Cahn achtet darauf, dass die Begegnung zwischen Mensch und Bild möglich wird. Dass die Augenpaare der Figuren (und auch der Betrachter) möglichst auf einer Höhe liegen – von Bild zu Bild. Nie würde sie "auf Kante" hängen.
Wenn sie draußen vor ihrem Atelier einer Kuh begegne, sagt die Künstlerin, "überlege ich, was die sich denkt". So wie Gertrude Stein, die feststellte: "Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt." Sind Kunstwerke eigentlich auch lebende Wesen? Das fragen wir Miriam Cahn lieber nicht, sie würde spöttisch reagieren. No Bullshit. Aber ihre Bilder schauen immer zurück.