Ausstellung und Film

Die Rückkehr des Polaroid Kid

In den Nullerjahren sprang Mike Brodie auf Güterzüge und reiste kreuz und quer durch die USA. Als Polaroid Kid wurde er mit Aufnahmen von Gefährten bekannt. Nach einer langen sesshaften Phase ist er nun wieder unterwegs

Das Schöne am Vagabundendasein sei, dass das Unmögliche zum Ereignis werde, schrieb Jack London in "The Road", seinem maßgeblichen Roman für alle Tramps, Bums und Hobos. "Der Landstreicher weiß nie, was im nächsten Augenblick geschehen wird; darum lebt er stets dem Augenblick."

Auf den Aufnahmen von Mike Brodie, einem der wenigen Güterzug-Nomaden unserer Tage, scheint dieser Augenblick gerade eben vergangen zu sein: Seine Weggefährten wirken häufig ausgebrannt, tragen Verbände, einer krümmt sich auf einer schmutzigen Toilette in einem verlassenen Haus, einer sitzt im Polizeiauto, ein anderer liegt im Krankenhaus, während der Freund daneben steht wie ein Besucher aus einem anderen Jahrhundert, der bergeweise Keime ins sterile post-industrielle Zeitalter trägt.

Die wilde Taugenichts- und Wanderarbeiter-Romantik, die von Woody Guthrie über Johnny Cash bis Beck Hansen in Folksongs besungen und von Jack Kerouac bis William Kennedy in Romanen beschrieben wurde, bedeutet eben auch: frierend und vom Getreidestaub niesend in Waggons liegen, sich mit anderen Landstreichern prügeln, sich nicht waschen können und sich nachts unter dem plötzlich leeren Himmel vor Einsamkeit nicht mehr rühren können. Brodi versteckt das nicht.

Optimismus, Freundschaft, Sehnsucht

Seine Bilder wurden – und das macht ihn dann doch zu einem ganz heutigen Phänomen – durch das Internet bekannt: Er stellte unter dem Alias The Polaroid Kid seine Aufnahmen ins Netz, um mit seinen Tramp-Freunden in Verbindung zu bleiben – und fand ein größeres Publikum. Sein 2011 veröffentlichtes Buch "Tones of Dirt and Bone" und der Nachfolger "A Period of Juvenile Prosperity" 2013 machten ihn in der Fotoszene berühmt. Dann hörte er mit dem Umherziehen auf, "von einem Tag auf den anderen", wie er sagt, und fotografierte kaum noch. Er machte eine Lehre zum Dieselmechaniker, schraubte an Lokomotiven rum, ausgerechnet, und heiratete eine Schaffnerin, ausgerechnet. 

Doch in den letzten drei Jahren, so hören wir jetzt, lebte Brodie nach der Scheidung von seiner Frau wieder auf der Straße. Cyrill Lachauer dreht nun einen Film mit ihm, der 2024 fertiggestellt werden soll. Der Berliner Künstler, Fotograf und Filmemacher durchquerte gemeinsam mit Brodie mehrere Male die USA auf Güterzügen und drehte unter schwierigsten Bedingungen. Als Vorgeschmack darauf sind jetzt in dem Berliner Projektraum Flipping the Coin bislang unveröffentlichte Polaroids von Brodie zu sehen. 

Der Vergleich zu Walker Evans, der in den 30er-Jahren die Wanderarbeiter der Großen Depression fotografiert hat, liegt nahe, aber kann Brodies Werke nur erdrücken. Auch Nan Goldin oder Larry Clark sind mit ihren Aufnahmen von fertigen Jugendlichen nicht eng verwandt, wie es zunächst scheint. Ihren Bildern fehlt der Optimismus, der durch Freundschaft und Sehnsucht getriggert wird und seinen Hallraum in der Weite der Landschaft findet. Eher sind wir damit bei der Peer-Fotografie von Ryan McGinley – auch wenn bei dem New Yorker der Exzess oft inszeniert ist. Die Bilder des Autodidakten Brodie leben von einer großen Unmittelbarkeit und zeugen doch von einem großen Gespür für Komposition.

Triumph in den Gesichtern

Denn es gibt neben der Kaputtheit der Protagonisten eben auch die andere Seite, die in Mike Brodies Fotografien leuchtet, und die sieht nach großen Versprechungen aus, die weiße "Pioniere" in der Frontierbewegung einmal westwärts trieb, nach "life, liberty and the pursuit of happiness": wehende Haare im Fahrtwind, abgewetzte Stiefel, der Blick zum Horizont, das freudige Studium der Landkarte. "Und an jeder Wegbiegung begegnet dem Landstreicher das Unerwartete", wie London schreibt. Und mischt sich die Erschöpfung in den Gesichtern der Freunde Corey, Blake, Rocket, Soup, Savannah, Lost und Trinity nicht auch mit einem triumphalen Ausdruck? Der berechtigte Triumph, das Unmögliche zum Ereignis gemacht zu haben?

Mike Brodie schreibt in "A Period of Juvenile Prosperity" auf zwei Seiten über sich. Demnach ist er in Arizona in prekären Familienverhältnissen aufgewachsen: Der Großvater habe ihn sexuell missbraucht, der Vater war immer wieder im Gefängnis, die Mutter Anhängerin einer religiösen Erweckungsbewegung. Als Brodie 15 war, zog er mit seiner Familie nach Florida. Sein erster Ausflug per Güterzug führte ihn mit 17 Jahren  in die falsche Richtung – aber egal, was ist die richtige Richtung? Der Teenager war angefixt.

Eine Freundin überließ ihm eine Polaroid SX-70, und er begann seine Reisen zu dokumentieren. Als Polaroid die Produktion von Filmen einstellte, kauft er sich eine Nikon F3 35mm. 7000 Fotos will er auf seinen frühen Reisen gemacht haben. Heute ist Mike Brodie 39 Jahre alt, kein Kid mehr, aber immer noch jung. Und der Horizont ist immer noch weit.