"Die Zeit erhebt die meisten Fotografien, selbst die amateurhaftesten, zu Kunst", schrieb Susan Sontag in ihrer 1977 erschienenen Essaysammlung "On Photography", einem Band, der schon am Tag seiner Veröffentlichung versprach, ein Klassiker in der Fotografietheorie zu werden. Der Begriff "Amateurfotografie" klingt 40 Jahre später ein bisschen altertümlich, auch wenn man jeden Berufsfotografen verstehen kann, der auf diese Abgrenzung zu Recht Wert legt. Was bedeutet diese Bezeichnung noch in einer Zeit, in der jeder ständig fotografiert?
Der wohlwollende Blick auf das Unverstellte, "Unverbildete" der von künstlerischen Absichten freien Amateurfotografie lässt sich nur von der Warte des geschulten Connaisseurs einnehmen. Das heißt, man muss einen gemeinsamen Begriff davon haben, was künstlerische oder auch professionelle Fotografie leisten muss, um im Unterschied dazu den Amateur zu identifizieren. Diesen Blick wiederum umzukehren, fremde Archive zu einem eigenen Werkskörper zusammenzustellen, ist eine Methode, die in der Foto- und Konzeptkunst viele gute Werke hervorgebracht hat. Ähnlich arbeitet der in Paris lebende Filmemacher Lee Shulman, der für sein "Anonymous Project" Amateurfotos aus den 1950er- und 60er-Jahren zusammenträgt.
Farbfotos der Mittelschicht
Was Schnapschüsse, die lange vor dem Trenden der "Snapshot-Ästhetik" à la Nan Goldin aufgenommen wurden, nach Kunst aussehen lässt, sind die Gefühle, die sie auslösen. Dabei sind diese mehr Rührung als Ehrfurcht: Die Qualität des Amateurbilds liegt nicht in der Anstrengung, ein nach professionellen Standards ausgerichtetes "gutes Bild" zu machen, sondern in den vielen nebensächlichen Informationen, die diese Bilder eben auch beinhalten. Die leuchtenden Farbfotos, die Lee Shulman zusammengesammelt hat, sind ebensolche Spuren aus dem Leben Einzelner, die Zeugnis ablegen von wirtschaftlichem Aufschwung im Kleinen und ehrlicher Nachkriegseuphorie.
Verlief die Intensität der Farben analog zum kapitalistischen Wohlstand? Der Bildband "Midcentury Memories", der eine Auswahl der Sammlung zeigt, legt es nahe: Darin knallen die Farben in Ektachrome- und Kodachrome-Qualität so satt und selbstgewiss, wie die US-amerikanische Gesellschaft sich in ihrer Freizeit Mitte des letzten Jahrhunderts fühlte. "The Anonymous Project" ist ein Konvolut von mehr als 700.000 privaten Dias; Ein leidenschaftliches Projekt, in dem fast jedes Bild aussieht wie aus dem Storyboard zu einem Wes-Anderson-Film oder einer sehr originellen Netflix-Serie.
Nein, besser: Denn das Zufällige, Skurrile, unfreiwillig Stimmige, das diese Bilder auszeichnet, lässt sich auch von sehr guten Bildexperten fast nie genau imitieren. Private Fotografie, auch das zeigt das Buch, war eine Angelegenheit der weißen Mittelschicht, sie war denen vorbehalten, die überhaupt Zugang zu Pocketkameras hatten. Mittlerweile glaubt niemand mehr, dass Fotografie ein unbestechlicher Übermittler der Wahrheit sei. Dafür wird die private Amateurfotografie immer interessanter: als Kommunikationsmittel, das über Generationen hinweg menschliche Wünsche und Ideale transportiert, die sich im Grunde kaum verändert haben. Dem Amateur und seinem Blick auf die Welt lässt sich, besonders mit zeitlichem Abstand, eine eigene künstlerische Wahrheit zuschreiben.